Tobias Münchmeyer, stellvertretender Leiter der politischen Vertretung von Greenpeace und bei den Verhandlungen als „Sherpa“ dabei, über absurde Forderungen, einen Etappensieg für den Klimaschutz und die Frage, wie es weitergeht.

2038 soll der letzte Kohlemeiler vom Netz gehen, acht Jahre später als von Greenpeace gefordert. Was heißt das für das deutsche Klimaziel

Das heißt, dass das Klimaziel für 2030 erreicht wird. Dennoch haben wir uns für mehr eingesetzt. Und was das Enddatum angeht: Das liegt sicherlich zu spät, es ist aber vereinbart worden, dass es noch auf 2035 vorverlegt werden kann.

Bis 2022 sollen schon Meiler mit einer Gesamtleistung von 12,5 Gigawatt abgeschaltet werden, danach ist der Plan schwammig. Droht der ambitionierte Auftakt dann zu verpuffen?

Ja, der droht zu verpuffen. Es ist eine Einigung, die weit von dem entfernt ist, was wir gefordert haben. Das ist dann eine Abwägung: Ist das so schlecht dass man dem nicht mehr zustimmen kann, oder überwiegen die positiven Aspekte? Und zu diesem Schluss sind wir in dieser langen Nacht gekommen, weil vor allem die erheblichen Abschaltungen in den allerersten Jahren so wichtig für uns sind.

Wenn Deutschland aus der Kohle aussteigt, verlagern sich die Emissionen dann nicht einfach in unsere Nachbarländer?

Nein, weil überschüssige Emissionszertifikate gelöscht werden und das bedeutet, dass es dann für andere keine Möglichkeit gibt mehr zu emittieren. Außerdem gibt es in ganz Europa nicht einen Energieträger der so schädlich ist wie die Braunkohle. Deutschland ist Braunkohleweltmeister und wenn dort reduziert wird, dann hat das einen sehr positiven Effekt.

Die Wirtschaft sagt, der Strom wird durch den Kohleausstieg um bis zu 1,4 Cent pro Kilowattstunde teurer, das Umweltministerium sagt, er wird um 0,8 Cent billiger, wenn die Erneuerbaren Energien wie geplant ausgebaut werden. Was denn nun?

Das ist ganz schwer zu prognostizieren. Wir gehen davon aus, dass die Industrie die Zahlen bewusst aufgebläht hat, um hohe Kompensationsforderungen stellen zu können. Wichtig ist, dass man laufend untersucht, um wieviel der Strompreis denn nun tatsächlich steigt und dementsprechend kompensiert, und nicht einfach pauschal riesige Summen ausschüttet.

© Jan Zapfer / GreenpeaceTobias Münchmeyer, im Hintergrund die Kühltürme des Braunkohlekraftwerks Boxberg in der Lausitz.
© Jan Zapfer / Greenpeace

Tobias Münchmeyer, im Hintergrund die Kühltürme des Braunkohlekraftwerks Boxberg in der Lausitz.

Die Wirtschaftsverbände haben ja hohe Strompreisentlastungen für die Industrie gefordert, sonst erleide der Wirtschaftsstandort Deutschland „schwerste Schäden“. Worauf hat sich die Kommission geeinigt?

Das hängt davon ab, wie stark der Strompreis steigt. Wir haben keine festen finanziellen Zusagen beschlossen.

Die gibt es hingegen für die Kohleländer Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen. Sie sollen 40 Milliarden Euro Strukturhilfen bekommen – deutlich mehr als gedacht.

Ich weiß nicht, ob es jemals schon eine solche Kommission mit so vielen unterschiedlichen Interessen gegeben hat: die Länder, die Beschäftigten, die Industrie, die Kraftwerksbetreiber und die Umweltverbände. Dass es Regionen gibt, die sowieso schon strukturschwach sind und die in diesem Transformationsprozess unterstützt werden müssen, war uns von Beginn an klar. Die Kommission heißt ja auch „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“. Wir haben immer nur gesagt: Es darf auf keinen Fall Milliardenzahlungen geben, ohne dass für den Klimaschutz wirklich was passiert. Das war so ungefähr die Herangehensweise der Ministerpräsidenten der ostdeutschen Bundesländer, viel Geld zu fordern aber zu sagen: Den Kohleausstieg wollen wir entweder gar nicht oder irgendwann in den 40er-Jahren.

Die Kommission diskutierte fast 21 Stunden. 

Ja genau, von 8 Uhr bis 4.40 Uhr.

Was war der kritischste Punkt?

Das war die große Klimafrage. Wir haben uns sieben Monate lang spiralförmig um den heißen Brei bewegt und erst in den letzten drei Stunden die ganz harten Fragen offen diskutiert. Das ist bizarr. Bis zu diesem 25. Januar um 22 Uhr wurde im Plenum der Kommission kein einziges Mal darüber gesprochen, wann das Enddatum liegen könnte oder wie viel Gigawatt bis 2022 abgeschaltet werden sollen. Das muss man sich mal vorstellen! Dann ging es in Kleingruppen los, und das ist dann ein sehr hartes Gefeilsche um jedes Gigawatt und jede Jahreszahl, bis zu einem Punkt, wo Nerven blank liegen, wo es psychologisch sehr hart ist, wo alle Seiten kurz davor sind, das Handtuch zu werfen. Das Ergebnis ist kein triumphales Gefühl, sondern das Gefühl, dass an diesem Tag, in dieser Stunde unter den existierenden wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen nicht mehr möglich war.

Für Greenpeace saß der Geschäftsführer Martin Kaiser in der Kommission, Sie waren sein „Sherpa“. Was war also Ihre Aufgabe?

Sherpas tragen ja für Bergsteiger das schwere Gepäck nach oben. Über die Metapher des G20-Gipfels kam der Begriff in die Politik und bezeichnet dort die Chefverhandler. Wir Sherpas waren bei allen Verhandlungen dabei, bis auf die letzten drei Stunden. Da saßen nur einige wenige besonders wichtige Kommissionsmitglieder zusammen. Ich wurde aber in Unterbrechungen immer wieder konsultiert.

Sie saßen also mit zitternden Händen vor der geschlossenen Tür?

Ja, das kann man sagen. Das war ein Warten und Bangen mit den anderen Sherpas. In der Zeit versucht man herauszufinden: Wie ticken die anderen, wie weit sind die bereit zu gehen, wie einig sind die sich untereinander? Da gab es viele Fronten, zum Beispiel bei den Beschäftigungsgarantien. Das waren nicht immer nur die Umweltverbände gegen den Rest der Welt.

Über allem hing das Damoklesschwert der politischen Entscheidung, wenn die Kommission gescheitert wäre. Was hätte das bedeutet?

Die große Koalition hat sich weiß Gott nicht dem Klimaschutz verpflichtet. Wäre diese Kommission geplatzt – und das war bis zum Schluss absolut vorstellbar – dann wäre die Gefahr gewesen, dass die nächsten drei Jahre schlicht und einfach überhaupt nichts passiert wäre. Das mussten wir immer mit bedenken.

27 von 28 Mitgliedern stimmten dafür. Wer war dagegen?

Hannelore Wodtke, die Vertreterin der Bürgerinnern und Bürger in der Lausitz, deren Dörfer von der Abbaggerung bedroht sind. Ihr ging dieser Beschluss nicht weit genug, was den Schutz der Dörfer angeht. Das kann ich auch gut nachvollziehen, das ist einer von mehreren Schwachpunkten dieser Einigung.

Ähnlich wie beim Hambacher Forst, dessen Erhalt die Kommission als „wünschenswert“ bezeichnet?

Das würde ich anders sehen. Über das Wort „wünschenswert“ kann man natürlich schmunzeln. Für uns ist es aber ein klares Statement, wenn man bedenkt, dass RWE in dieser Kommission indirekt durch den Stromerzeugerverband vertreten war. Wir glauben, dass sich die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen diesem Signal nicht so einfach entziehen kann. Trotzdem ist es nicht so deutlich formuliert, wie wir das gerne gehabt hätten, das gebe ich zu.

Wie bindend ist der Beschluss der Kommission für die Politik?

Formell gar nicht, aber informell hat er eine sehr hohe Bindungswirkung. Das zeigt auch die Erfahrung mit anderen Kommissionen, die die Breite der Gesellschaft abgebildet haben. Es wäre heikel für die Bundesregierung, wenn sie Beschlüsse fassen würde, die der Einigung der Kommission deutlich widersprechen. Ich gehe stark davon aus, dass der Kompromiss eins zu eins so umgesetzt wird.