Zu einer Zeit, als es noch keine Navigationssysteme gab, bin ich mit einer Freundin durch Frankreich gefahren. Sie hielt die Straßenkarte vor sich und sollte mich lotsen. Allerdings versuchte sie bei jeder Kurve, die Karte erneut in Fahrtrichtung zu drehen, und verlor an jedem zweiten Kreisverkehr komplett die Orientierung.

Heute müssen wir uns nicht mehr selbst orientieren und keine Karten mehr in Fahrtrichtung drehen, Navigationssysteme machen das für uns. Google Maps hatte bereits 2014 eine Milliarde Benutzer im Monat, Tendenz steigend. Mittlerweile können die Benutzer auf den digitalen Karten Fotos hochladen, Öffnungszeiten von Läden eingeben oder per Street View Road Trips unternehmen, ohne je die eigenen vier Wände zu verlassen. Was bei den Nutzern ankommt ist: Die Karten sind ein – immer detaillierter werdendes - Abbild der Welt. Nur stimmt das nicht. Solche Karten sind nur besonders gut darin, diese Illusion zu erschaffen.

Auf den Karten des Internetgiganten wurde die Insel Reichenau zeitweise der Schweiz zugeordnet, auf einem britischen Feld wurde ein inexistenter Ort namens Argelton verzeichnet und im Pazifik zwischen Australien und Neukaledonien tauchte Sandy Island auf, eine Insel die kein Kapitän je gesehen oder angelaufen hätte. Diese Nicht-Orte entstanden durch Fehler beim Bearbeiten der Satellitenbilder, die Basis der Karten sind.

© Hyderabad Urban Lab – Harsha Devulapalli, Indivar JonnalagaddaDie kritische Karte von Hyderabad in Indien zeigt die Slums der Stadt (rot markiert), die auf herkömmlichen Karten nicht vorkommen
© Hyderabad Urban Lab – Harsha Devulapalli, Indivar Jonnalagadda

Die kritische Karte von Hyderabad in Indien zeigt die Slums der Stadt (rot markiert), die auf herkömmlichen Karten nicht vorkommen

Der weit häufigere Fehler ist jedoch, dass Details verloren gehen. Beim Übertragen der Bilder in abstrakte Karten, müssen Dinge vereinheitlicht und generalisiert werden. In deutschen topografischen Karten werden christliche Kirchen durch eine Signatur dargestellt. Moscheen, Synagogen und andere Sakralbauten allerdings nicht. Sie sind auf den Karten schlichtweg nicht existent. „Karten sind nicht neutral“, sagt Paul Schweizer, „sie spiegeln ein Weltbild wieder und meist ist es das Bild der Nationen, Städte, Verwaltungskreise, die Karten anfertigen lassen. Unsere Kartensammlung zeigt die Welt derjenigen, die dabei oft übersehen werden.“ Schweizer ist Teil des Kollektivs orangotango, das weltweit Kartografie-Workshops für Stadtteilgruppen, Aktivisten und Bürgerinnen anbietet, die sich so ihren Raum selbst erarbeiten. Es ist eine Art räumliche Emanzipation, um gegen Widersprüche und Ungerechtigkeiten intervenieren zu können und Teil der gesellschaftlichen Debatte zu werden. Nur eben ohne Worte, sondern mit Karten.

„This is not an Atlas“ haben sie ihr Buch genannt, das aus dieser Idee entsprungen ist, und trotz des Titels voller Karten ist. Allerdings hat es nichts mit dem Atlas aus Schulzeiten zu tun, in dem man herumblättern und von fremden Ländern träumen konnte. Die Karten zeigen stattdessen, wo man in New York zwischen Apartmenthäusern, Supermärkten und Schulen noch Raum findet, auf dem man Gemüse anbauen könnte oder in welchen Parks, Brücken, Tunnel besonders oft sexuelle Übergriffe stattfinden. In der argentinischen Pampa kartieren sie die Folgen von Monokultur und Bergbau und in Hyperabad in Indien kartieren sie die Slums der Stadt, die auf herkömmlichen Karten nicht vorkommen. Ihre Sammlung könnte man deshalb auch als visuelles Lexikon der Ungerechtigkeiten betrachten.

© Mark Graham, Stefano De Sabbata, Ralph Straumann, Sanna OjanperäDie Karte zeigt, wie stark der Fokus von Wikipedia-Artikeln auf bestimmte Regionen ist. Man sieht die Verteilung im weltweiten Vergleich, welche Orte einem Artikel bei Wikipedia zugeordnet werden können
© Mark Graham, Stefano De Sabbata, Ralph Straumann, Sanna Ojanperä

Die Karte zeigt, wie stark der Fokus von Wikipedia-Artikeln auf bestimmte Regionen ist. Man sieht die Verteilung im weltweiten Vergleich, welche Orte einem Artikel bei Wikipedia zugeordnet werden können

Vom Design her würde der Nicht-Atlas auf jeden Coffeetable passen, es ist ästhetisch ansprechend, nur lassen sich die Seiten wegen der Inhalte nicht einfach so gedankenlos umblättern. Jede Seite verlangt nach Auseinandersetzung, nach Diskussion, nach Fragen um den Zustand der Welt, in der wir leben. Das beginnt schon mit den Abbildungen auf den ersten Seiten, wo die Welt nicht mit der üblichen Ausrichtung gen Norden gezeigt wird – sondern in Richtung Süden. Im ersten Moment wirkt es, als stehe sie Kopf. Aber sehr frühe Karten zeigten in alle möglichen Himmelsrichtungen, der Norden hat sich vermutlich durchgesetzt, weil die europäischen Entdecker ihren Kontinent in das Zentrum der Karte setzten. Genau das führt zu einer weiteren Verzerrung: Auf vielen konventionellen Karten sieht es aus, als sei Grönland fast so groß wie Afrika. In der Wirklichkeit jedoch ist die nordatlantische Insel nur rund zwei Millionen Quadratkilometer groß, der Kontinent jedoch hat eine Fläche von rund 30 Millionen Quadratkilometer. Die grotesken Größenverhältnisse entstehen, weil jede Karte eine zweidimensionale Abbildung unseres elliptischen Planeten ist und dadurch automatisch verzerrt. Schon allein deshalb ist keine Karte ein ungefiltertes Abbild der Realität. Im Nicht-Atlas sieht man nicht nur andere Versionen der Weltkarte, man entdeckt auch neue Symbole auf ihnen, je nachdem um welches Thema es geht: Allmende, Vertreibung, Widerstandsbewegungen.

„Jeder kann Karten machen“, sagt Schweizer, „man braucht dazu kein formales Training.“ Deshalb enthält das Buch neben Anleitungen, wie man Karten erstellt auch eine Vielzahl an unterschiedlichsten Designs von selbstgemalten Werken über Luftbilder, die zeichnerisch ergänzt wurden, zu computergestützten Karten. Sie alle zeigen, dass die Welt auch ganz anders sein könnte und dass an viele Fronten genau dafür gekämpft wird.

© HarassMap team – edited by Noora FlinkmanAnzahl und Ort von registrierten sexuellen Übergriffen sind in Rot auf dieser Karte von Kairo, Ägypten, markiert, in Türkis solche, wo von Außenstehenden eingegriffen wurde
© HarassMap team – edited by Noora Flinkman

Anzahl und Ort von registrierten sexuellen Übergriffen sind in Rot auf dieser Karte von Kairo, Ägypten, markiert, in Türkis solche, wo von Außenstehenden eingegriffen wurde

Wie sehr Karten immer noch auch Instrument der Mächtigen sind, zeigt beispielsweise ein libanesisches Flüchtlingscamp, in dem ein urbanes Landwirtschaftsprojekt gestartet werden soll. Offizielle Karten gibt es, aber die Behörden halten sie unter Verschluss. Google Maps zeigt nur die Hauptstraße durch die bereits seit Jahren befestigten und in der dritten Generation bewohnten Gebiete. Die Qualität der vorhandenen Luftbilder ist so gering, dass sie sich die engen Gassen nicht ausmachen lassen. Die Bewohner beschließen deshalb, sich eine eigene Karte zu erarbeiten, auf die sie vor allem Wasserquellen eintragen wollen. Denn ohne Wasser, keine Landwirtschaft und kaum Perspektiven. Sie basteln sich aus Ballons und Kameras Instrumente, um die Gebiete aus der Luft zu fotografieren. Und am Ende geht es gar nicht mehr darum, ob tatsächlich eine Karte entsteht, sondern dass man diesen Versuch gestartet hat und sich damit selbst ermächtigt hat. „Allerdings“, gibt Schweizer zu bedenken, „muss man sich fragen, wenn es um Karten von Aktivisten geht, was man nicht zeigen sollte. Es gibt räumliches Wissen, das ist wichtig und richtig, aber in manchen Fällen zu gefährlich, um es darzustellen.“ 

Der Nicht-Atlas enthält viele Aha-Momente. Die Leserin hinterfragt an diesen Stellen angenommene Selbstverständlichkeiten und wird auf sozialisierte Konstrukt aufmerksam, die teilweise noch aus Kolonialzeiten nachwirken. Jede Karte verlangt aufs Neue, das eigene Vorwissen zu hinterfragen. Vereinzelt hat man sich vielleicht mit Teilaspekten beschäftigt, aber diese Kartensammlung ist ein Versuch, die Dimension von Ungleichverhältnissen als Ganzes darzustellen. Die ideale Lösung bietet das Buch allerdings nicht, denn die vereinfachten und vereinheitlichten herkömmlichen Karten sind als Instrumente wichtig, um sich in der Welt zu orientieren und sie zu ordnen. Wenn jeder Mensch sich seine eigene Karte erschafft, würde diese Funktion wegfallen und wir hätten ein Nebeneinander von Karten, die jeweils eine eigene Filterblase widerspiegeln. Trotzdem kann man von dem Nicht-Atlas profitieren. Und wenn es nur die Anregung ist, sich künftig bei jeder Karte zu fragen, aus welcher Weltanschauung sie denn erwachsen ist.

„This is not an Atlas“ ist im Transcript Verlag erschienen. Er hat 352 Seiten und kostet 34,99 Euro.

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