Am 1. Mai des Jahres 1886 begann die nordamerikanische Arbeiterbewegung mit einem mehrtägigen Generalstreik für humanere Arbeitszeiten. Acht statt zwölf Stunden pro Tag. Es gab Ausschreitungen und Tote. Doch die Menschen, die für ihre Rechte kämpften, hatten es satt, ihr Leben der Arbeit zu opfern. Die Idee vom Achtstundentag – acht Stunden Schlaf, acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit – verbreitete sich in der westlichen Welt. Es dauerte dann noch 32 Jahre bis der Achtstunden-Arbeitstag 1918 in Deutschland gesetzlich festgeschrieben wurde. Ein Meilenstein.

Ähnlich tiefgreifende Veränderungen der Arbeit, wie sie damals durch die Industrialisierung der Weltwirtschaft hervorgerufen wurden, stehen uns auch heute, im Zeitalter der Digitalisierung bevor. Eine Studie des McKinsey Global Institutes, die Anfang des Jahres erschien, sagte voraus, dass bis 2055 die Hälfte aller Arbeitsstunden durch Automatisierung wegfallen könnte, knapp ein Viertel schon bis 2030. Deutschland sei davon besonders betroffen, da die hiesigen hohen Löhne mehr Anreiz böten, Arbeitskraft durch Maschinen zu ersetzen. Hundert Jahre nach der hart erkämpften Einführung des Achtstundentags müssen die Menschen nun also befürchten, dass sie gar nicht mehr gebraucht werden. Aber wäre das wirklich so schlimm?

Die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens ist bereits in höchsten Politikerkreisen angekommen

Auf den ersten Blick ist die Vorstellung beängstigend. Der Verlust des Arbeitsplatzes bedroht die Existenz und den sozialen Status. Das gilt jedoch nur solange, wie die Erwerbsarbeit das Hauptkriterium für gesellschaftliche Anerkennung und Prestige bleibt. Arbeit ist eine Instanz unserer Identität geworden: Ich arbeite, also bin ich. Was, wenn dieses Paradigma keinen Bestand mehr hätte?

Richard David Precht, Deutschlands medienwirksamster Philosoph, entwirft in seinem neuesten Buch die Utopie einer zukunftsfähigen digitalen Gesellschaft. Für ihn gibt es nur eine Lösung, um den vielfältigen Problemen, die eine Ablösung der menschlichen Arbeitskraft durch Automatisierung mit sich bringen wird, zu begegnen: das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Nur ein Grundeinkommen, sagte er vergangene Woche in der TV-Sendung von Markus Lanz, könne die soziale Wohlstandsgesellschaft erhalten. 

Die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens, einer vom Staat ausgezahlten Existenzsicherung von 1000 Euro (die meisten Experten rechnen mit 1500 Euro) gibt den Bürgern die Freiheit, selbst zu entscheiden, mit welchen Tätigkeiten sie ihre Zeit verbingen möchten. Auch aus marktwirtschaftlicher Sicht birgt das Modell Vorteile: Denn wer ein sicheres Einkommen hat, der kann konsumieren. 

Seit einigen Jahren wird hartnäckig darüber diskutiert – mittlerweile auch in höchsten Politikerkreisen. Die neue SPD-Vorsitzende Andrea Nahles sagte diese Woche im Gespräch mit dem „Spiegel“, dass Deutschland eine „Sozialstaatsreform“ brauche und dass „gedanklich kein Stein auf dem anderen“ bleiben müsse. Gute Voraussetzungen ein Bedingungsloses Grundeinkommen zu diskutieren, Andrea Nahles lehnt es jedoch kategorisch ab. „Ich halte nichts davon, Arbeit und Sozialleistungen zu entkoppeln“, sagte sie. „Die Idee passt nicht in unsere Arbeitsgesellschaft.“

Die Unabhängigkeit von Lohnarbeit bringt vor allem eines: Zeit, sich sinnvoll zu betätigen

Die Hoffnung der Befürworter eines Grundeinkommens besteht jedoch genau darin: dass sich die Arbeitsgesellschaft wandelt. Dass ein Grundeinkommen die Bedeutung von Arbeit und das Verhältnis zwischen Mensch und Arbeit verändert und dass die Bedrohung der Lohnarbeit wie wir sie kennen, gar keine Bedrohung ist, sondern eine Befreiung.

„Es geht darum, Eigentum, Geld und Arbeit radikal zu hinterfragen“, sagt Tobi Rosswog, der gerade an einem Buch schreibt, in dem er „radikale Ideen für eine Gesellschaft jenseits der Arbeit“ entwickelt. Rosswog lebt selbst seit einigen Jahren „geldfreier“, wie er es nennt. Er geht keiner geregelten Lohnarbeit nach, ist aber nicht untätig. Im Gegenteil, er hält Vorträge, hat einige Initiativen gegründet, engagiert sich für einen sozial-ökologischen Wandel. „Wer unabhängiger von Geld wird, wird automatisch unabhängig von Lohnarbeit und hat dadurch mehr Zeit, sich Gedanken zu machen, welche Tätigkeiten vielleicht sinnvoll und erfüllend sind.“

Die Hoffnung, dass die meisten Menschen handeln würden wie Rosswog, wenn sie durch ein Bedingungsloses Grundeinkommen existenziell abgesichert wären, ist groß. Das Problem: niemand weiß, ob es wirklich funktioniert. Niemand hat es ausreichend erprobt und es lassen sich keine eindeutigen Voraussagen treffen, wie Menschen ihr Verhalten und ihr Verhältnis zu Arbeit verändern, wenn sie ein Grundeinkommen erhalten würden und welche Auswirkungen ein Grundeinkommen dann tatsächlich auf die Gesellschaft und auf das Wirtschaftssystem hätte.

Das Potenzial entfaltet sich erst durch die Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Einkommen 

Erst vergangene Woche wurde bekannt, dass ein Experiment in Finnland – es war der erste Feldversuch zum BGE in Europa – nach zwei Jahren nicht fortgesetzt wird. Die Begründung: zu hohe Kosten und fehlender Glaube an das Experiment. Die Regierung kündigte an, andere Instrumente der sozialen Absicherung auszuprobieren, zum Beispiel ein Kreditsystem. 

Die Meldung machte Schlagzeilen. An das finnische Experiment, bei dem 2000 zufällig ausgewählte Arbeitslose ein monatliches Grundeinkommen von 560 Euro bekommen, das auch fortgesetzt wird, wenn die Teilnehmer einen Job finden und Geld verdienen, waren hohe Erwartungen geknüpft. Nun war zu lesen, dass das Bedingungslose Grundeinkommen „gescheitert“ sei. Dabei gibt es noch gar keine Auswertung des zweijährigen Versuchs, der noch bis Ende des Jahres läuft. Er wird lediglich nicht verlängert.

Ursprünglich ist die Idee des Grundeinkommens aus der sozialen, linken Perspektive gedacht und mit der Hoffnung auf das Ende von Armut und Ungleichheit verbunden. Die rechtsliberale finnische Regierung wollte jedoch vor allem herausfinden, ob ein Grundeinkommen einen positiven Beschäftigungseffekt hat. Sie erhoffte sich geringere bürokratische Kosten und dass die Arbeitslosen wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen.

Die Finanzierung könnte ökologische Effekte haben

Eine ähnliche Hoffnung äußerte auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, als er sein „solidarisches Grundeinkommen“ vorstellte und den Begriff instrumentalisierte, um Arbeitslosen eine schlecht bezahlte kommunale Tätigkeit als tolle Perspektive zu verkaufen. „Das solidarische Grundeinkommen hat mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen nichts zu tun“, sagt Michael Bohmeyer, der mit seiner Initiative „Mein Grundeinkommen“ seit 2014 Spendengeld einsammelt, um damit monatliche Auszahlungen von tausend Euro zu verlosen. „Ein echtes Grundeinkommen muss existenzsichernd, individuell, ohne Bedarfsprüfung und ohne Gegenleistung zur Verfügung gestellt werden“, heißt es in einer Erläuterung der Initiative. „Das Potential der Idee entfaltet sich erst durch die Entkopplung von Erwerbsarbeit und Einkommen. Nur dadurch entsteht die Brücke zwischen Freiheit und Sicherheit.“

Was bleibt, ist die ewige Frage nach der Finanzierung. Wenn jeder deutsche Bürger 1000 bis 1500 Euro bekommen soll, wer bezahlt das? Es gibt verschiedene Rechenmodelle, in denen Besteuerungen und die Minderkosten des gesunkenen Verwaltungsaufwands gegeneinander gerechnet werden. Richard David Precht brachte zuletzt eine Finanztransaktionssteuer ins Spiel, die den Nebeneffekt hätte, dass auf den globalen Märkten weniger mit Finanzprodukten spekuliert würde. Auch eine Steuer auf den Ausstoß von CO2 hätte sinnvolle Effekte, um neben der Finanzierung eines Bedingungslosen Grundeinkommens auch den Klimawandel einzudämmen.