„Digitalcourage“ vergibt den Negativpreis an Weltkonzerne wie Microsoft und Amazon und an kleine Firmen wie Cevisio oder Soma Analytics – und an die Fraktionen von CDU und Grünen im hessischen Landtag. Gemeinsam ist den Preisträgern, dass sie nach Ansicht des Vereins besonders rücksichtslos mit sensiblen Daten umgehen.

Ein Chip erlaubt die Totalüberwachung von Geflüchteten: Er speichert, unter welchen Krankheiten sie leiden, wer zur Familie gehört oder wo sie sich wann in ihrer Unterkunft aufhalten. Die Software ermögliche die „direkte Verwaltung und Abrechnung der Flüchtlinge“, wirbt die Firma, die den Chip entwickelt hat, in einer Produktbroschüre. Für diese fragwürdige Errungenschaft hat der Bürgerrechtsverein Digitalcourage der Firma Cevisio Software und Systeme GmbH aus Torgau am Freitag den BigBrotherAward 2018 in der Kategorie Verwaltung verliehen.

Die Jurymitglieder des Negativpreises kritisieren, Menschen würden wie Dinge behandelt: „Die Software ist nicht nur preiswürdig wegen der mit ihr möglichen Datenschutzverstöße, sondern vor allem wegen des Menschenbildes, das dahintersteht.“ Der Chip zeige, „auf wie vielen Ebenen Privatsphäre verletzt werden kann“, so Laudator Dr. Thilo Weichert, Jurist und ehemaliger Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz.

Seit 2000 verleiht Digitalcourage jährlich die BigBrotherAwards an Firmen und Institutionen, die besonders rücksichtslos mit Daten umgehen, in der Kritik standen bereits Rabattkarten, Mautkameras, Farbkopierer und Handyüberwachung. Die Mitglieder des Vereins wollen so auf Verstöße aufmerksam machen und die Preisträger zum Umdenken auffordern – allerdings bleiben diese der Preisverleihung meist fern, ignorieren die Vorwürfe oder wiegeln ab. In diesem Jahr findet die Veranstaltung im Bielefelder Stadttheater statt, außerdem kann jeder sie im Internet als Livestream verfolgen.

Der Verein hat mittlerweile über 2000 Mitglieder

„Am Anfang dachten wir, dass wir den Preis fünf Jahre lang verleihen würden und dann alles abgehandelt ist“, sagt Rena Tangens, Vorstandsmitglied im Verein Digitalcourage und Jurymitglied. „Doch wir haben gemerkt, dass Engagement für Datensicherheit und Privatsphäre immer wichtiger wird“. Mittlerweile werde der Verein bekniet, mit der Preisverleihung weiterzumachen – nicht nur von Aktivisten, sondern auch von Datenschutzbeauftragten in Firmen und Verwaltungen. „Sie können sammelwütige Personal- oder Marketingabteilungen eindämmen, indem sie auf den Preis verweisen“, sagt Tangens. Am Anfang hatte Digitalcourage 65 Mitglieder, mittlerweile sind es 2000. Elf Mitarbeiter arbeiten für den Verein, der sich ausschließlich durch private Spenden und Fördermitgliedschaften finanziert.

Tangens schrieb im Digitalcourage-Jahrbuch 2018, dass der eigentliche Erfolg der BigBrotherAwards am Verhalten der Menschen zu sehen ist: „Datenschutz ist als Thema in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Dass in den letzten eineinhalb Jahren so viele Datenschutzvergehen aufgeflogen sind, hat auch mit dem gestiegenen Bewusstsein zu tun, dass da Unrecht geschieht, und dass wir dagegen vorgehen müssen.“

Unter den diesjährigen Preisträgern sind bekannte Namen

Ein weiterer Preisträger ist in diesem Jahr das Unternehmen Soma Analytics UG aus München in der Kategorie Arbeitswelt. Es erhielt den Negativpreis für eine App, die „anhand der Aufgeregtheit der Stimme beim Telefonieren den Gesundheits- und Vitalzustand des Nutzers“ misst, so die Begründung der Jury. Arbeitgeber können daraus Rückschlüsse auf die seelische Verfassung ihrer Mitarbeiter ziehen. 

In der Kategorie Technik ist Microsoft Deutschland wegen der „kaum deaktivierbaren Übermittlung von Diagnose-Daten im Betriebssystem Windows 10“ der Gewinner des Negativ-Awards. Und mit Amazon steht in der Kategorie Verbraucherschutz ein weiterer Branchenriese auf der Liste der Preisträger, und zwar für sein „neugieriges, vorlautes, neunmalkluges und geschwätziges Lauschangriffdöschen namens Alexa.“ Die Jury begründet die Wahl so: „Preiswürdig ist, dass diese Abhördaten in der Cloud auch gespeichert werden und man sie auch nach Monaten noch abspielen kann. Damit können Haushaltsmitglieder überwacht werden und es ist unklar, wer noch alles darauf zugreifen kann.“ 

Tangens zitiert gerne den Zauberer Albus Dumbledore: „Es wird die Zeit kommen, da ihr euch entscheiden müsst zwischen dem, was richtig ist, und dem was bequem ist.“

Auch Parteien werden dieses Jahr gerügt: Digitalcourage kritisiert ein geplantes neues Verfassungsschutzgesetz in Hessen als „schweren Angriff auf Demokratie, Rechtsstaat und Bürgerrechte“, weshalb die Fraktionen von CDU und Bündnis 90/Die Grünen im Wiesbadener Landtag den Award erhalten: „Der schwarz-grüne Gesetzentwurf enthält eine gefährliche Anhäufung schwerwiegender Überwachungsbefugnisse, mit denen tief in Grundrechte eingriffen werden kann. Mit sogenannten Staatstrojanern sollen ‚verdächtige‘ Computer heimlich infiziert und ausgeforscht werden.“ 

In der Kategorie PR & Marketing würdigen die Jurymitglieder dagegen schlicht den Modebegriff „Smart City“, der ihrer Ansicht nach hochproblematisch ist: „Mit dem Werbebegriff ‚Smart City‘ versuchen Technikfirmen, der Kommunalpolitik die ‚Safe City‘ zu verkaufen: eine mit Sensoren gepflasterte, total überwachte, ferngesteuerte und kommerzialisierte Stadt“, so die Begründung. Neben dem Überwachungs-Chip für Geflüchtete findet Jurymitglied Tangens diese Auszeichung besonders wichtig: Sie hofft, dass Zivilgesellschaft und Medien noch gegensteuern können, um die Überwachung unter dem Deckmantel von Sicherheit zu verhindern. Tangens muss dabei an ein Zitat des weisen, weißbärtigen Schulleiters Albus Dumbledore in einem Harry-Potter-Film denken: „Es wird die Zeit kommen, da ihr euch entscheiden müsst zwischen dem, was richtig ist, und dem was bequem ist.“ Und diese Zeit sei jetzt.