Am Freitag ist der nationale Tag des Vogels und Startschuss für die jährliche Aktion „Stunde der Wintervögel“, der größten Vogelzählung in Deutschland. Bürger helfen dabei mit herauszufinden, warum die Vogelbestände schwinden und was das mit Klimawandel und Landwirtschaft zu tun hat. Unsere Autorin hat sich vorab auf die Lauer gelegt.

Burglind ist schuld. Ohne sie hätte alles so schön werden können. Stattdessen stehe ich mit Gummistiefeln im Matsch und friere. Denn obwohl das Tiefdruckgebiet in Hamburg keinen schweren Sturm gebracht hat, ist hier dank Burglind der Himmel grau und es regnet unablässig. Da helfen auch Regenschirm, Wollsocken und warmer Tee nicht viel. Keine optimalen Bedingungen, um Vögel zu beobachten. Dennoch: Eine Stunde lang observiere und zähle ich die gefiederten Gäste in meinem Garten.

Die Idee dazu kommt vom Naturschutzbund Nabu. Zweimal im Jahr ruft er alle Menschen in Deutschland dazu auf, ihre Gärten, Hinterhöfe oder nahegelegene Parks genauer unter die Lupe zu nehmen und Vögel zu zählen. So sollen die Trends der Vogelwelt erfasst werden. Ziel ist es herauszufinden, welchen Arten es gut geht – und welchen schlecht. Aus diesen Ergebnissen können die Naturschützer dann weitere Maßnahmen ableiten und politischen Druck aufbauen. Das ist wichtig, denn die Vögel in Deutschland werden immer weniger. „Zwischen 1998 und 2009 sind knapp 13 Millionen Brutpaare verloren gegangen, ein Minus von 15 Prozent“, sagt Lars Lachmann, Vogelschutzexperte beim Nabu. Das gehe aus den Bestandszahlen der Bundesregierung von 2013 hervor. Neuere Datensätze liegen noch nicht vor. Ein Grund mehr, sich an der Aktion des Nabu zu beteiligen. Im vergangenen Jahr machten bei der Stunde der Wintervögel 124.000 Menschen mit, rund 85.000 Probeflächen – Gärten, Parks und Hinterhöfe – wurden untersucht, am meisten in Thüringen und in Bayern. So viel Vogel-Enthusiasmus und das im Winter. Da kann Burglind noch so viel Regen bringen, ich gehe auf die Pirsch.

© Julia LauterDer Garten der Autorin, in dem sich die Vögel gut verstecken können
© Julia Lauter

Der Garten der Autorin, in dem sich die Vögel gut verstecken können

Im Garten ist es ganz ruhig. Einzig der nasse Boden schmatzt unter meinen Gummisohlen. Ich setze mich auf den Gartenstuhl nahe des Rhododendrons, schaue in den Regen und warte. Es dauert ein paar Minuten, da höre ich trotz des prasselnden Regens auf meinem Schirm den ersten Vogel. Doch wo sitzt er? Ich beobachte die Gebüsche, aus denen es immer lauter schimpft, aber ich sehe: nichts. Nur nasses Grün. Ist das der Ruf der Amsel? Ich nutze die Bestimmungshilfe auf der Internetseite des Nabu und höre mir dort den Amselgesang an. Ja, es scheint als wettere hier die gemeine Amsel gegen meine Observation an. Doch blicken lässt sie sich weiterhin nicht. Zögernd mache ich ein Kreuz auf dem ausgedruckten Zählhilfe-Blatt. Mit Bleistift. Beobachtet habe ich streng genommen ja noch nichts. Erst mal einen Schluck heißen Tee trinken und weiter warten.

Vergangenes Jahr, so erzählte mir Lars Lachmann, beobachteten die Teilnehmer der „Stunde der Wintervögel“ durchschnittlich 17 Prozent weniger Vögel als im Jahr zuvor. Besonders die Meisenarten machten sich rar, sie wurden nur halb so häufig wie sonst entdeckt. Was war los mit den Meisen? Ein neuer Virus? Der Klimwandel? Die Windräder? Lars Lachmann mahnt zur Besonnenheit bei der Interpretation dieser Ergebnisse: „Im Winter kommen üblicherweise Meisengäste aus Russland und Skandinavien nach Deutschland – weil aber der letzte Winter recht mild war, fanden sie wohl auch in ihren heimischen Gefilden genug Futter und hatten keinen Grund herzukommen“, sagt er. Erst wenn auch die Zahl der Vögel bei der Zählung im Mai („Stunde der Gartenvögel“) signifikant abnehme, gebe es Anlass zur Sorge. Mit den Daten aus Frühsommer und Winter ließen sich Veränderungen in den Wanderungsbewegungen der Vögel offenlegen – erste Boten des Klimawandels in unserem Ökosystem.

Ob meine Beobachtungen zur Erhellung der Umweltentwicklung beitragen können, beginne ich zu bezweifeln. Noch immer kommen die Vögel nicht aus ihren Verstecken. Sie sitzen, geschützt vor Wind und Regen, in den Tannen und Hecken des Nachbarn. Ihre kecken Rufe klingen für mich schon, als lachten sie über das große Tier, das da so ungeschützt von Burglind durchnässt wird. Und dann doch: Zwei Kohlmeisen wagen sich aus dem Schutz der Tannenzweige hervor, sie fliegen blitzschnell vorbei – und verschwinden im Geäst der großen Fichte. Schnell mache ich zwei Haken auf dem Zählblatt. Puh.

Tiermonitoring ermöglicht uns einen Blick in den Maschinenraum des Ökosystems. Doch was folgt aus dem, was wir dort entdecken? Im Oktober sorgte ein Studie der Radboud University im niederländischen Nijmegen für Furore, die Monitorings von Fluginsekten aus den letzten 27 Jahren in 63 Schutzgebieten in Nordwest-Deutschland auswertete. Das Ergebnis: Die Gesamtmasse der Insekten hat um 75 Prozent abgenommen. Ein Schock. Und plötzlich diskutierte die ganze Republik über das Insektensterben. Blöd nur, dass die Studie keinen Grund für den dramatischen Rückgang nannte – dafür war das Forschungsdesign nicht angelegt. Der Streit ging also nur in eine weitere Runde: Naturschützern scheint der Zusammenhang zwischen der Intensivierung der Landwirtschaft und dem Artenrückgang offenbar, doch eindeutig beweisen konnten sie das bisher nicht. Und so lange das nicht der Fall ist, wird die Agrarlobby „business as usual“ machen. So weit, so kompliziert. Doch was hat das mit Vögeln zu tun? Nun, wo Insekten aussterben, da wird es auch für Amsel, Drossel und Meise eng. Denn die meisten Vögel ernähren sich ganz oder zumindest teilweise von Insekten. Es liegt also nahe, dass das Aussterben vieler Käfer, Fliegen, Schmetterlinge und Spinnen mit für den Rückgang der absoluten Vogelzahlen verantwortlich ist. Lars Lachmann sagt: „Weniger Insekten sind auf jeden Fall schlecht für die Vogelpopulationen. Aber das Ökosystem ist komplex und einfache Antworten Mangelware.“

Denn es gibt auch insektenfressende Vogelarten, die in den letzten Jahren häufiger vorkommen. Zum Beispiel der Bienenfresser. Der lebt eigentlich in wärmeren Gefilden, kommt aber heutzutage immer häufiger in Deutschland vor. Ein Hinweis auf den Klimawandel. Und darauf, wie schwer Kausalitäten – wie der Grund für das Vogelsterben – belegt werden können. Ein kurzer Blick in den Maschinenraum reicht leider oft nicht aus, um die Gründe zu finden. Die Stärke von Monitorings wie die „Stunde der Wintervögel“ liegt darum auch nicht in den einzelnen Zählungen, sondern in der Gesamtheit der Ergebnisse im Verlauf der Jahre.

© picture alliance / blickwinkelMeisen sind in Deutschland häufig zu beobachten, hier eine Blaumeise auf einem Erlenzweig
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Meisen sind in Deutschland häufig zu beobachten, hier eine Blaumeise auf einem Erlenzweig

Das kann ich leicht nachvollziehen: Nähme man nur meine Vogelzählung zur Grundlage, müsste man den bundesweiten Vogelnotstand ausrufen. In meinem Garten, den ich sonst als sehr vogelreich wahrnehme, sehe ich heute noch ein Rotkehlchen und glaube den Ruf eines Grünfinks zu erkennen. Die zwei Kohlmeisen traversieren immer mal wieder, von Tanne zu Fichte und wieder zurück, aber ansonsten lässt sich niemand blicken. Dennoch meine ich während der Stunde im Garten eine Veränderung wahrzunehmen: es ist, als würde er an Tiefenschärfe gewinnen. Ich sehe plötzlich, wie wichtig die ungeliebten, dunklen Tannen für die Gartenbewohner zu sein scheinen. Und erkenne, dass der Rohdodendron, der Bambusstrauch und der Kirschlorbeer für die Tiere völlig uninteressant sind. Nicht mal zum Schutz vor Regen greifen sie auf diese Zierpflanzen zurück. Lars Lachmann wäre mit dieser Beobachtung sicher zufrieden. „Das ist ein wichtiger Aspekt unserer Aktion: Wir möchten das Interesse der Menschen für die Natur vor ihrer Haustür wecken.“ Bei vielen Teilnehmern springe nach der ersten Beobachtung ein Wettbewerbsgedanke an. Sie möchten mehr Vögel anlocken, um beim nächsten Mal mehr zu zählen, sagt Lachmann. „Diesen Enthusiasmus nutzen wir, um das Wissen über vogelfreundliche Gärten und die richtige Fütterung weiterzugeben.“

Siedlungsgebiete sind für viele Vogelarten ein Rückzugsort. In absoluten Zahlen kommen die meisten Vögel in Wäldern vor, danach kommt direkt der Siedlungsraum und dann weit abgeschlagen das Land mit seinen Agrarflächen. Klar, die Stadt kann nicht mit dem Wald mithalten. Doch der urbane Lebensraum ist vielfältig, es gibt relativ viele Bäume und ein breites Futterangebot. Das zeigt sich auch an den Bestandszahlen: Arten, die in Siedlungsräumen leben, Lachmann nennt sie „Allerweltsvögel“, haben in der Regel stabile Populationen. Richtig schlecht geht es dagegen den Vogelarten, die auf Feldern und Wiesen heimisch sind. Sie werden immer seltener und vielen droht das Aussterben. Zu ihnen zählen etwa die Feldlerche, der Kiebitz, die Goldammer oder das Rebhuhn. Wer hat Letzteres je schon mal in freier Wildbahn gesehen? Eben.

Es braucht also beides: Den Strukturwandel, der die Arten auf dem Land schützt und eine Landwirtschaft befördert, die die Biodiversität nicht gefährdet. Und die wachsamen Vogelschützer in den Siedlungsgebieten, die ihre Gärten zu Vogelrefugien umbauen. Ich packe meine Notizen und meine leere Thermoskanne zusammen. Mein Mitgefühl gilt den Vögeln, die die kalten Wintermonate noch vor sich haben. Mit schmatzenden Schritten gehe ich über den regennassen Rasen zurück ins Haus. Bis zum 15. Januar kann man Sichtungsergebnisse noch beim Nabu einreichen – ich komme wieder, wenn Burglind sich verzogen hat.