In diesem Jahr feiern Frauen mit dem internationalen Frauentag auch ein Jubiläum: hundert Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland. Was uns heute selbstverständlich vorkommt, erstritten Frauenrechtlerinnen wie die Suffragetten Anfang des 20. Jahrhunderts durch Proteste. Ab 1918 durften Frauen in Deutschland wählen.

„Mich nervt, dass der Frauenkampftag inzwischen als Mischung aus Muttertag und Valentinstag begangen wird“, sagt Julia Korbik. „Ich brauche keine Blumen und Pralinen. Es sollte darum gehen, Rechte zu erkämpfen und auf Missstände aufmerksam zu machen.“ Sie nimmt einen Schluck ihres Kaffees: Espresso, schwarz, stark. „Wir dürfen den Kampf im Wort ‚Frauenkampftag‘ nicht vergessen“. Die Autorin bereitet sich im Café Bilderbuch in der belebten Akazienstraße in Berlin-Schöneberg auf eine Podiumsdiskussion zu Feminismus am 8. März vor. 

Dem Greenpeace Magazin erzählt sie an einem Nachmittag Anfang März, wie sie Feministin wurde, wie die französische Feministin, Existenzialistin und Gesellschaftsrevolutionärin Simone de Beauvoir sie dabei inspiriert hat und warum sie die 1986 in Paris verstorbene Französin am liebsten nur beim Vornamen nennt. Dabei redet Korbik sehr schnell, ebenso wie es ihrem Idol nachgesagt wird, dem sie ihr aktuellstes Buch „Oh Simone! Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten“ gewidmet hat. Die Berliner Autorin will die Pariser Ikone vom imaginären Podest stoßen – und sie so anderen Frauen näherbringen.

Frau Korbik, wie sind Sie zum Feminismus und zur Lektüre der Bücher von Simone de Beauvoir gekommen?

Schon als Kind und Jugendliche kam mir manches Verhalten merkwürdig vor. Beispielsweise wenn der Sportlehrer zu mir sagte, ich würde so gut Liegestütze machen wie ein Junge. Oder die Doppelmoral, dass ein Mädchen an meiner Schule eine Schlampe war, wenn sie mit einem Jungen Sex hatte. Aber der Junge, mit dem sie schlief, nicht.

Dann fing ich an Simone zu lesen und auf einmal war alles klar. In Büchern wie „Die Mandarins von Paris“, „Sie kam und blieb“ und „Das andere Geschlecht“ fand ich Antworten auf die Fragen, die ich mir vorher nicht zu stellen wusste. Beispielsweise warum es für ein Mädchen ein Kompliment sein soll, etwas so gut wie ein Junge zu können – und warum andersherum eine Beleidigung daraus wird. Oder wie man diese Doppelmoral für sexuelles Verhalten erfassen, beschreiben und daran Kritik üben kann. Und ich sagte mir: Wenn das Feminismus ist, dann bin ich Feministin.

Dabei hat sich Simone selbst zunächst gar nicht als Feministin bezeichnet, sondern als Sozialistin. Aber als sie in den 1960er und 70er Jahren realisiert hat, dass sich auch durch ein sozialistisches System die Rolle der Frau nicht verändern lässt, hat sie ihre Einstellung angepasst. Simone de Beauvoir hat mich definitiv zur Feministin gemacht.

Wie kam es dazu, dass Sie Ihren Blog über Simone de Beauvoir gestartet haben, aus dem ihr aktuelles Buch entstanden ist?

Meine Frankophilie hat mich zum Studium nach Lille geführt. Ich hatte einen „French crush“ und wollte in Cafés sitzen, schwarzen Kaffee trinken und über Leben und Sinn philosophieren – wie Simone. Ich hatte von ihr schon alles gelesen, aber mich trotzdem nicht als Expertin gefühlt. Ein eigenes Buch zu schreiben, das habe ich mir einfach nicht zugetraut. Das war so ein klassisches Frauenproblem, dieses Denken: Ich habe nicht genug Ahnung davon, ich muss etwas komplett beherrschen und in allen Facetten erfasst haben, um mich überhaupt berechtigt zu fühlen, etwas dazu zu sagen. Das ist so ein Unsinn.

Männer nehmen das leichter und reden oft drauf los, auch wenn sie viel weniger Ahnung haben. Jedenfalls begann ich einen Blog, in dem ich auch kleinere Formate integrieren konnte und nicht nur Hochvergeistigtes. Simone konnte sehr witzig sein und auch das wollte ich zeigen. Und ich wollte mich zur Expertin machen.

© picture-alliance/akg-imagesDie Feministin, Philosophin und Gesellschaftsrevolutionärin Simone de Beauvoir 1970 in Paris. Rechts im Bild ihr Lebenspartner Jean-Paul Sartre, ebenfalls Philosoph
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Die Feministin, Philosophin und Gesellschaftsrevolutionärin Simone de Beauvoir 1970 in Paris. Rechts im Bild ihr Lebenspartner Jean-Paul Sartre, ebenfalls Philosoph

Inwiefern lassen sich de Beauvoirs politisches Engagement und ihr unkonventioneller, revolutionärer Lebensstil in ihre Denkrichtung des Existenzialismus einordnen?

Die Hauptaussage des Existenzialismus lässt sich etwas vereinfacht in dem Satz „Die Existenz geht der Essenz voraus“ zusammenfassen. Das bedeutet: Wir sind nicht etwas, wir müssen uns erst aktiv zu etwas machen. Sie lebte frei, selbständig und war immer damit beschäftigt, sich weiter zu der Person zu machen, die sie sein wollte – in Form von neuen Projekten, Vorhaben, Zukunftsplänen. Darum geht es letztendlich: dass der Mensch seine Freiheit verwirklicht – und Freiheit war für Simone de Beauvoir im Prinzip das bestimmende Thema ihres Lebens.

In ihrem Buch „Das andere Geschlecht“ legt de Beauvoir dar, warum viele Frauen eben nicht so frei sind wie sie selbst: Weil sie sich in einer Situation – im existenzialistischen Sinne – befinden, die ihre Freiheit begrenzt. Zur individuellen Situation tragen Umstände bei, die man selbst nicht gewählt hat, zum Beispiel historische, biologische oder gesellschaftliche.

De Beauvoir leitete, wie Sartre auch, aus der existenzialistischen Philosophie einen klaren Auftrag zum Engagement ab: Es soll einem nicht nur um die eigene, individuelle Freiheit gehen, sondern auch darum, anderen Menschen zu ermöglichen, frei zu sein. Diese Prämisse zeigt sich ganz deutlich in de Beauvoirs politischem Engagement, zum Beispiel für die Unabhängigkeit Algeriens oder in der Frauenbewegung in den 70er Jahren in Frankreich. Sie zeigt sich aber auch in de Beauvoirs Werk, nicht nur in „Das andere Geschlecht“, sondern zum Beispiel auch in dem Roman „Das Blut der anderen“, wo es um die Auswirkungen der eigenen Handlungen auf das Leben anderer geht. Oder in „Die Mandarins von Paris“, wo de Beauvoir Gewissenskonflikte und den Willen, das „Richtige“ zu tun, literarisch aufarbeitet.

Und warum sollen wir heute – laut der These Ihres Buchs – de Beauvoir wiederentdecken?

Simone hat Großartiges geleistet. Und trotzdem stand sie – damals wie heute – im Schatten ihres lebenslangen Partners Jean-Paul Sartre. Die meisten kennen zwar das Zitat „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“, welches die Kernthese ihres Hauptwerks „Das andere Geschlecht“ zusammenfasst. Aber da hört die de-Beauvoir-Rezeption oft auch schon auf. Sie ist viel zitiert und wenig gelesen – und das sollte sich ändern.

Ich nenne sie auf meinem Blog und in meinem Buch Simone, weil ich Distanz abbauen will, sie von ihrem imaginären Podest stoßen und zugänglicher machen will – als Feministin, Philosophin, politische Aktivistin und Persönlichkeit, die radikal im Privaten das gelebt hat, was sie theoretisch gefordert hat. So hat sie sich mehrfach geweigert, Sartres Heiratsanträge anzunehmen. Sie wollte frei sein, im Leben, im Arbeiten und im Lieben. Diesen Weg hat sie sich überlegt und dann ist sie ihn gegangen – ganz ohne Vorbilder, an denen sie sich orientieren konnte. Sie war ihrer Zeit weit voraus.

© Lars Mensel<p>Buch-Autorin Julia Korbik mit einem Shirt, auf dem „Bonjour Simone“ steht</p>
© Lars Mensel

Buch-Autorin Julia Korbik mit einem Shirt, auf dem „Bonjour Simone“ steht

Welche Bedeutung hatte de Beauvoirs Werk für die Frauenbewegung in Deutschland?

Simone hat durch ihr Denken, aber auch als Persönlichkeit inspiriert. Zum Beispiel die deutsche Feministin Alice Schwarzer, die in Paris in den 60er Jahren ein paar Kurse an der Uni besuchte und dort als Journalistin arbeitete. Dann traf sie de Beauvoir. Inspiriert von ihrem politischen Engagement und den Kämpfen französischer Feministinnen initiierte Schwarzer 1971 auf dem Titel der Zeitschrift „Stern“ die Aktion „Ich habe abgetrieben“.

In einem Interview mit Schwarzer sagte Beauvoir einst: „Ich würde Frauen gerne sagen, wie ich meine Sexualität gelebt habe, denn das ist nicht nur eine persönliche Frage, sondern auch eine politische.“ Hier nahm Simone Bezug auf ihre diversen Liebesbeziehungen vor allem zu anderen Frauen, während sie mit Sartre eine offene Beziehung führte. Und lieferte damit das Motto der zweiten Frauenbewegung in den 70ern: Das Private ist politisch.

Und in welchen feministischen Diskursen zeigt sich de Beauvoirs Denken heute?

In ihrem Hauptwerk „Das andere Geschlecht“ hat Simone de Beauvoir die Basis für die feministischen Diskurse unserer Zeit gelegt. Sie hat das biologische Geschlecht explizit von seiner sozialen Rolle getrennt definiert und analysiert. Und hat auch politische Konsequenzen daraus gezogen und ist dafür eingetreten, dass Geschlecht und dessen soziale Konstrukte keine Grundlage für Benachteiligung sein dürfen. Auch die zeitgenössische US-Theoretikerin Judith Butler ist dadurch stark beeinflusst. Auf diese Unterscheidung bauen die modernen Gendertheorien mit ihrer Analyse von Geschlechtskonstruktionen auf sowie auch die aktuellen Debatten in Queer-Kontexten.

Gibt es andere aktuelle Debatten, die Simone de Beauvoir antizipiert hat?

Im Prinzip hat Simone schon in den 70er Jahren eine Art analoge #metoo-Debatte angestoßen. 1973 hat sie die Rubrik „Le sexisme ordinaire“ (Der alltägliche Sexismus) in der Pariser Zeitschrift „Les Temps Modernes“ etabliert. Hier konnten Frauen schildern, was ihnen im Alltagsleben widerfahren ist, all die Anzüglichkeiten, Belästigungen und Benachteiligungen, die ihnen täglich begegnet sind. Simone fand das wichtig, denn es sind auch kleine Sexismen, die zur Stabilisierung des patriarchalen Systems beitragen. Im Interview mit Alice Schwarzer hat sie gesagt, man dürfe „nichts durchgehen lassen“.

Auch im zweiten Teil von „Das andere Geschlecht“ untermauert sie ihre im ersten Teil aufgestellten theoretischen Überlegungen mit konkreten Beispielen und gelebten Erfahrungen von Frauen. Sie manifestiert damit ein weiteres Mal, dass das Private immer politisch ist. Das sieht man auch an der Wucht, welche die #metoo-Debatte heute entfaltet. Und die Kritik, welche ihr diese Wucht absprechen will, so als hätten die Geschichten von Frauen keinen Wert. Gerade deshalb ist #metoo so wichtig und ich glaube, dass Simone diese Debatte willkommen geheißen hätte.

Was ist das Wichtigste, was Sie persönlich von de Beauvoir mitgenommen haben?

Ich habe von ihr gelernt, wie bereichernd es sein kann, feministische Vorbilder zu haben und von diesen zu lernen. Deshalb freue ich mich auch so auf die Veranstaltung der Stadt Wiesbaden zum Frauenkampftag am 8. März, wo ich mit Sibylla Flügge, einer fast 70-jährigen Pionierin, die sich schon seit über vierzig Jahren für Frauenrechte engagiert, diskutiere. Wir jungen Feministinnen müssen nicht jedes Mal das Rad neu erfinden, denn es gibt einen großen Erfahrungsschatz und viel Wissen in den verschiedenen Generationen der Frauenbewegungen, auf das wir aufbauen können. Für unser theoretisches Denken, wie auch unseren persönlichen Lebensweg.

Und ich habe von Simone de Beauvoir gelernt, dass es sich lohnt, seinen eigenen Weg zu gehen – mit Überzeugung und Leidenschaft. Sie hat konsequent das gelebt, wofür sie theoretisch einstand und hat dafür in Kauf genommen, mit einem skandalösen Ruf zu leben. Die Veröffentlichung von „Das andere Geschlecht“ begleitete ein analoger Shitstorm mit persönlichen Beleidigungen auf der Straße und Vergewaltigungsfantasien in Leserbriefen. Aber ihr Weg war, immer weiter für die Selbstbestimmung der Frau zu kämpfen. Und das möchte ich auch tun – zum Beispiel mit meinem Buch.