À la Saison

Standhafte Steckrübe

Mahlzeit der Könige und Kühe, Basis von Kraftbrühe und Konfitüre? Was ihr wollt. Brassica napus var. rapifera ist das Chamäleon der Wintergemüse. Und: Sie ist wieder da

Standhafte Steckrübe

„Du hättest sie hören sollen, wie sie das dürftige Kleinleben ausmalte, für das sie nicht geschaffen sei; sie sei nicht für Speck und Wruken.“ So klang „Verliebt in Berlin“ anno 1892: In Theodor Fontanes Zeitungsnovela „ Frau Jenny Treibel“ verzweifelt ein junger Mann an der Dünkelhaftigkeit seiner Angebeteten. Er heult sich bei deren Vater aus. „Hm“, brummt der. Das sei „kulinarisch eine Torheit“. Nichts gehe über Gerichte, die schon Friedrich Wilhelm I. geliebt habe. Ein König, kein Kleinbürger!

Es lässt sich nicht verhehlen. Wruken, wie Steckrüben auf gut Preußisch heißen, hatten immer schon eher den Ruf des Einfachen. Im 17. Jahrhundert aus Skandinavien nach Deutschland gelangt, heißt es über die „Schwedische Rübe“ schon 1788 in einer Enzyklopädie: „Auch für das Vieh sind die Kohlrüben nahrhaft.“ Kohlrübe, Erdkohlrabi oder Unterkohl wird die Kreuzblütlerin auch genannt, weil sie botanisch gesehen keine Wurzel, sondern ein Kohl mit dicker Sprossachse ist. Oder ein Raps mit Rübe. Wie dem auch sei. Vermutlich ist es kein gutes Omen für ihren weiteren Weg, dass von allen Menschen auf Preußens Boden ausgerechnet Friedrich Wilhelm I. sie gerne isst – ein sparsamer Hohenzoller mit Militärfimmel.

Sein Urururenkel, Kaiser Wilhelm II., speist im Ersten Weltkrieg lieber Spargel. Die Wruke überlässt er dem Volk. Embargos, Kartoffelfäule und Kälte haben eine Hungersnot ausgelöst. Die Schweine sind geschlachtet, nun kommt ihr Futter dran. Der Jahreswechsel 1916/17 geht als „Steckrübenwinter“ in die Geschichte ein. „Früh Kohlrübensuppe, mittags Koteletts von Kohlrüben, abends Kuchen von Kohlrüben“, ächzen die Untertanen, während Kochbücher auch Marmelade, Sauerkraut, Brot und Kaffee aus Steckrüben preisen. Obwohl sie Leben rettet, wächst die „Ostpreußische Ananas“ dem Volk derart zu den Ohren heraus, dass die Reichskartoffelstelle im Frühling Millionen Zentner übrig hat.

Hier steckt die Wurzel des kollektiven Traumas, das im Hungerwinter 1946/47 aufgekocht und in vierzig Jahren DDR-Schulspeisung mit Wrukeneintopf genährt wurde. Der „Schweinekübel“ neben der Essenausgabe sorgte für kurze Wege. Noch effizienter war die Streichung der Rübenrationen im kapitalistischen Deutschland. Das ist lange her. Und wir entdecken: Steckrüben in Biokisten und Sternerestaurants. Sind wir weniger vornehm als gedacht? Nein, die Wruke ist nur wirklich keine Ananas und passt als regionales Lebensmittel wieder hervorragend in die Zeit. Die einstige Massenfeldfrucht ist eine schützenswerte Rarität. Neunzig Prozent der alten Sorten sind verschollen.

Kochen wir was Gutes aus Überlebenden wie „Wilhelmsburger“ und „Hoffmanns Gelbe“, deren Fleisch beim Dünsten die Farbe der tief stehenden Wintersonne annimmt. Ihre pfeffrige Süße macht sie zur idealen Begleiterin echter Wurzeln wie der Karotte und echter Knollen wie der Kartoffel, etwa in Püree mit Butter und Muskat. Die Schärfe gerösteten Knoblauchs passt ebenso wie die Lakritznoten von Sternanis und Fenchel. Schwein und Rind schmeichelt sie im Trog wie auf dem Teller. Das beste aber: Sie schmeckt – im Gegensatz zur Pastinake – auch roh als süß-scharfer Reibesalat. Pur genossen, ist sie eine gesunde, kalorienarme Vitaminbombe für den lieben langen Winter.

Es kann also nicht ihre Schuld sein, dass Friedrich Wilhelm I. 1740 mit nur 51 Jahren gichtgeplagt an Herzversagen starb. Zuletzt saß er häufig im Rollstuhl. Vielleicht hätte er sich mehr bewegen sollen. Gesagt ist es nicht. Man kann sich auch totlaufen. Wer wüsste das besser als der Hase, der den Wettlauf gegen den Igel verlor? Auf einem Steckrübenacker.

Standhafte Steckrübe

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