Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie sind die Innenstädte weltweit deutlich leerer geworden. Wo sich bei besten Frühlingswetter sonst Menschenmassen in Straßencafés und in Parks drängen, herrscht dieser Tage auf den ersten Blick oft eine große Leere. Doch bei genauerem Hinsehen ist auch in den verlassenen Städten einiges los: In New Orleans zum Beispiel schwärmen derzeit große Gruppen von Ratten auf der Suche nach Nahrung aus – die Nagetiere, die sonst eher im Verborgenen leben, laufen nun scharenweise auf den Straßen herum. In Barcelona wurden Wildschweinherden im Zentrum der Stadt gesichtet. In Tel Aviv wagt sich in der Gegend des Stadtparks Hajarkon eine zehnköpfige Schakalfamilie immer weiter auf die Pfade der Menschen vor. Und in Chiles Hauptstadt Santiago sind bereits mehrere Pumas aufgetaucht.

In Deutschland sind die Ausgangsbeschränkungen nicht ganz so strikt wie in vielen anderen Ländern, doch auch hier zeigen sich Veränderungen im urbanen Ökosystem: Enten, Gänse und Schwäne, die sonst in den Innenstädten nur Parkseen bewohnen, spazieren offenbar in vielen Städten vermehrt in den Fußgängerzonen. Auch Fuchs- und Mardersichtungen haben mancherorts zugenommen. Wildtiere scheinen die Ruhe auf den Straßen für ausgedehnte Streifzüge zu nutzen.

Doch während die Coronakrise bei einigen Arten die Neugier weckt, bringt sie für andere möglicherweise Probleme mit sich – etwa für Stadttauben. Die leben hauptsächlich von Essensresten und Abfällen, von denen sich auf den Straßen deutlich weniger finden, seit im Zuge des Shutdowns der Ausgang beschränkt und der Verzehr von Speisen in der Öffentlichkeit verboten wurden. Tierschützer fürchten nun um das Wohl die intelligenten grauen Vögel mit den roten Augen. Dass gerade Stadttauben in dieser Zeit schlechter dran sind als andere Tiere im urbanen Ökosystem hat einen simplen Grund: Sie sind keine Wildtiere im eigentlichen Sinne, sondern verwilderte Nachfahren von Haustauben, die einst aus Felsentauben gezüchtet und als Zuchttauben, Brieftauben oder schlicht als Fleischlieferanten gehalten wurden. Im Vergleich zu anderen Kulturfolgern – Arten, die sich den Kulturraum des Menschen zu eigen gemacht haben – wie Mauerseglern, Haussperlingen oder Rabenkrähen, tun sich die Stadttauben mit der Abwesenheit von Mensch und Müll schwerer. Während andere Wildtiere einfach ausschwärmen und neuen Futterquellen suchen, sind die Stadttauben standorttreu.

Bereits Ende März wies der Deutsche Tierschutzbund darauf hin, dass Tausende Stadttauben durch die Coronakrise vom Hungertod bedroht sein könnten. Der Verband appellierte an die Kommunen, Verstöße gegen bestehende Fütterungsverbote, mit denen viele Städten und Gemeinden die Population der Tauben begrenzen wollen, ausnahmsweise nicht zu verfolgen. Nun hat der Verein „Straßentaube und Stadtleben“ aus Baden-Württemberg die Forderung in eine Petition umgemünzt, die innerhalb kürzester Zeit rund 21.600 (Stand Dienstag) Menschen unterschrieben haben. Die Initiatoren beziehen sich auf das Tierschutzgesetz und fordern, dass kontrollierte Futterstellen eingerichtet werden oder, wo dies nicht möglich ist, das Fütterungsverbot für Stadttaubenprojekte und deren ehrenamtliche Mitarbeiter ausgesetzt wird. „10 bis 15 Tauben pro Woche finden wir zur Zeit, die völlig entkräftet vor Hunger sind“, berichtet eine der Initiatorinnen der Petition, Anna Faix, gegenüber den Stuttgarter Nachrichten. Allerdings erteilte das zuständign Ordnungsamt Böblingen den Tierschützern bereits aber eine Absage: Bisher seien keine ausgezehrten Tiere aufgefallen.

Auch der Ornithologe Lars Lachmann vom Naturschutzbund (Nabu) mahnt zur Gelassenheit: „Bisher halte ich die Befürchtung, die Stadttauben könnten zu Tausenden den Hungertod sterben, für ein bisschen zugespitzt“, sagte er. „Aber ich würde mich empirischen Erkenntnissen, sollte es solche geben, natürlich nicht verschließen.“ Stadttauben, deren Status „irgendwo zwischen Wildtier und Haustier steht“, seien auch heute noch stark vom Menschen abhängig und deshalb ein Sonderfall im urbanen Ökosystem, erklärt er. Der Ornithologe geht dennoch davon aus, dass die Stadttauben auf Futterknappheit reagieren, indem sie die Brut aussetzen und sich vielleicht doch weiträumiger auf die Suche nach Ersatzfutterquellen machen würden. Erst wenn sie das nicht täten oder diese Anpassungen nicht ausreichten, könnte es zum Verhungern von Stadttauben kommen. „Bisher habe ich aber noch von keinem Fall tatsächlich verhungerter Vögel gehört“, sagt Lachmann.

Andere Stadttiere hingegen profitieren aus naheliegenden Gründen von den derzeitigen Ausgangsbeschränkungen für die Menschen: Bei weniger Autoverkehr werden weniger Tiere überfahren. Frösche und Kröten, deren Frühjahrswanderung derzeit stattfindet, können sicherer ihre Laichgebiete erreichen. Und auch in manchen Urlaubsregionen kommen die Tiere zur Ruhe. Strandbrüter wie die Zwergseeschwalbe oder der Seeregenpfeifer etwa, die für Störungen durch Erholungsuchende besonders anfällig sind, können endlich einmal in Frieden brüten.