Es wird schon dunkel, als Trine Beddari den Hang hinaufkommt. Sie geht an ihrem Wohnhaus vorbei bis zu einem großen Tor. Es ist ungewöhnlich ruhig, obwohl fünfzig Huskys längst gewittert haben, wer da gekommen ist. Nur ein kurzes, freudiges Bellen zerreißt die Stille. Beddari betreibt mitten im Wald im Norden Norwegens in der Nähe von Kirkenes eine Huskyfarm. Entspannt zu bleiben, das seien die ersten Dinge, die die Tiere lernen, sagt sie. Wie die blonde Frau Anfang 50 das macht? „Ich lege mich mit meinem Schlafsack zwischen die Hütten und schlafe hier draußen bei den Hunden.“

Mit der Natur, mit den Tieren leben – für Beddari ist das keine Floskel, sondern Lebenseinstellung. „Ich bin Sámi – wir folgen dem Wetter und nehmen alles so, wie es kommt. Freiheit ist uns sehr wichtig“, erklärt sie.

Die Sámi gelten als die älteste Bevölkerung Europas. Ihr Siedlungsgebiet erstreckt sich von Nordnorwegen über nördliche Teil Schwedens und Finnlands bis hin zu den Küsten des Weißen Meeres und der Barentssee in Russland. Sápmi, das „Land der Samen“, wird es genannt, eine auf den ersten Blick menschenleere Landschaft. Heute leben hier noch rund 80.000 Sámi, Tendenz abnehmend. Feuerstellen, Steinhaufen und Reste von Rentierkoppeln lassen erahnen, dass hier bereits seit Generationen Menschen leben. Jeder Berg, jeder See und jedes Moor trägt einen samischen Namen. Vermutlich schon vor 10.000 Jahren siedelten hier die ersten Sámi. Als Viehzüchter, Fischer und Jäger lebten sie entlang der großen Flüsse, an den Küsten oder in den Hochgebirgsregionen, dem Fjäll. Einige sesshaft, andere zogen als Nomaden durchs Land.

 

Huskys gehören zum Leben der Sámi. Sie ziehen die Schlitten durch die schneebedeckte Landschaft.

Huskys gehören zum Leben der Sámi. Sie ziehen die Schlitten durch die schneebedeckte Landschaft.

Mit Entstehen der Nationalstaaten und der Einteilung des Bodens in Grenzen und Eigentum änderte sich ihr von Freiheit geprägtes Leben. Sie wurden Menschen zweiter Klasse. „Es war verboten samisch zu sprechen oder die Tracht zu tragen. Sámi zu sein war eine Schande“, erzählt Beddari. „Viele finden erst heute die Tracht ihrer Oma ganz hinten im Schrank wieder.“ Zwar fand schon am 6. Februar 1917 erstmals ein länderübergreifender Sámi-Kongress in Trondheim statt – heute ist der Tag samischer Nationalfeiertag – , doch erst in den vergangenen Jahren habe sich die Situation geändert, meint Beddari.

Knapp 400 Kilometer weiter südlich, in Finnisch Lappland, legt Pirjo Uusitalo ihrem Rentier das Geschirr für den Holzschlitten an. Söpö – übersetzt „der Schöne“ – zieht an und trabt durch die Landschaft. Schnee knirscht unter seinen Hufen. Uusitalo, die die Rentierschlittentouren organisiert, ist eine von rund 10.000 finnischen Sámi. Ihr Hof in den Wäldern von Ylläsjärvi ist manchmal monatelang eingeschneit, bis in den Mai kann sich der Winter hier ziehen – die Natur gibt den Takt vor. Und die Sámi? Sie folgen.

„Wir haben acht Jahreszeiten“,  sagt Jon-Krista Jonsson. Vier Jahreszeiten seien viel zu wenige um das zu kategorisieren, was in der Natur passiert, sagt der 26-Jährige. Mit Pelzmütze auf dem Kopf, Lederkluft, ein Lasso quer über den Oberkörper, ist er Rentierzüchter in Lycksele, im schwedischen Teil Sápmis.

Was Beddari, Uusitalo und Jonsson verbindet ist diese Einstellung: Mit der Natur zu leben, nicht von ihr. Denn die ist, so die Überzeugung der Sámi, nicht ihr Eigentum, sondern geliehen. Geliehen für die Zeit, die man auf der Erde ist. Und genau deshalb müsse man sie in einem ebenso guten Zustand verlassen, wie man sie vorgefunden hat. Gesund, intakt, lebenswert. Das bedeutet: Nie mehr fischen, als der See verträgt, nie mehr jagen, als dem Wildbestand guttut und man selbst braucht. Schließlich soll‘s auch noch fürs kommende Jahr reichen. Und für die nächsten Generationen.

Nach der Schlittentour gibt’s Flechten für die Rentiere von Pirjo Uusitalo. Ihre blau-rote Tracht zeigt nicht nur aus welcher Region Sápmis und aus welcher Familie Pirjo kommt, sondern auch, ob sie verheiratet ist oder Kinder hat.

Nach der Schlittentour gibt’s Flechten für die Rentiere von Pirjo Uusitalo. Ihre blau-rote Tracht zeigt nicht nur aus welcher Region Sápmis und aus welcher Familie Pirjo kommt, sondern auch, ob sie verheiratet ist oder Kinder hat.

Doch die Lebensgrundlage der Sámi ist bedroht: von Energiekonzernen, die Stauseen bauen, von der nach Norden drängenden Holzwirtschaft, die Weideland zu Plantagen und Nutzwäldern macht oder von Bergbauunternehmen, die Eisenerzminen mitten in den Lebensraum der Sámi zimmern. Und: der Permafrostboden taut weiter, setzt begehrte Bodenschätze frei.

Längere Sommer und höhere Temperaturen haben aber noch weitere Konsequenzen: Fischarten wie der Seesaibling verschwinden aufgrund wärmerer Seen, Schnee und Gletscher schmelzen, was die ohnehin schwierige Situation an den künstlichen Stauseen verschärft. Weideplätze gehen verloren, Futter für die Rentiere wird knapper. Waldbrände wie letzten Sommer in Schweden verschärfen die Situation.

Dabei ist die samische Sicht auf Land und Eigentum gemeinschaftlich orientiert. Nicht mein und dein, es ist das Land aller, durch das Nomaden wie Jonsson mit ihren Herden ziehen. „Rentiere sind frei dahin zu gehen, wohin sie wollen“, sagt der Rentierzüchter. Schließlich wüssten die Tiere am besten, wo es Futter gibt. Als Hirte folgt er ihnen: früher zu Fuß, heute auf dem Schneemobil.

Viele Sámi leben von der Rentierzucht – wie Jon-Krista Jonsson und seine Familie. Das halbe Jahr über ziehen sie mit ihrem Zelt der Herde hinterher.

Viele Sámi leben von der Rentierzucht – wie Jon-Krista Jonsson und seine Familie. Das halbe Jahr über ziehen sie mit ihrem Zelt der Herde hinterher.

Durch kniehohen Schnee stapft Jonsson zu seinem Zelt, lávvu auf Nordsamisch, über dem sich eine Rauchsäule kringelt. „Das Jahr beginnt, wenn die kleinen Rentiere geboren werden“, sagt der junge Mann. Danach geht’s auf die Sommerweide. Die ganze Herde, oft hunderte Tiere, werden dafür mit dem Lasso eingefangen und per Truck in die Berge gefahren. Vor Wintereinbruch geht’s retour. Rentierzucht hat bei den Sámi Tradition, die Tiere gelten als Verbindungsglied zwischen den Jahrtausenden: erst als Wildtier, seit 500 Jahren dann in halbnomadischer Haltung mit domestizierten Tieren. Im Winter, bei minus 30 Grad, auch für Jonsson kein Zuckerschlecken: „Es ist hart, Rentierzüchter zu sein, aber es macht Spaß. Die ganze Familie hilft.“ Sein zweijähriger Sohn hat auch schon ein Ren.

Aber auch an Rentierzüchtern gehen ökologische und ökonomische Veränderungen nicht spurlos vorüber. Mit größeren Herden und kommerziellen Angeboten – Jonsson betreibt eine kleine Event-Agentur – versuchen die Familien ihre wirtschaftliche Grundlage zu sichern. Ein Spagat zwischen Tradition und Moderne. Der Klimawandel verschärft die Situation zusehends. Doch noch trotzen Sàmi dieser Entwicklung, auch wegen ihrem Gespür für Natur und Tierwelt. „Jeder Sámi hat eine Verbindung zu Rentieren“, sagt Jonsson, nicht umsonst sei es nur ihnen erlaubt Rentiere zu halten. Und vielleicht haben sie Recht: Das samische Wort „Siida“ bezeichnet nicht nur eine Gruppe Menschen, die ihrer Rentierherde folgt, es bedeutet auch Zuhause.