Zum Jahrestag fordern Verbände wie der Deutsche Frauenrat oder der Deutsche Juristinnenbund nun mehr als nur das Frauenwahlrecht: sie wollen die gleichberechtigte Teilhabe an der Macht.

„Jetzt ist ein historisches Zeitfenster, alle sind wach und haben kapiert, dass etwas passieren muss“, sagt Mona Küppers. Im Hintergrund rattern einfahrende Bahnen, lautes Stimmengewirr ist zu hören. Die Vorsitzende des Frauenrats ist wegen einer Zugverspätung am Berliner Hauptbahnhof gestrandet und erzählt nun am Handy von der aktuellen Kampagne des Deutschen Frauenrats. Sie spricht mit lauter Stimme, um den Lärmpegel der Bahnhofshalle zu übertönen: „Hundert Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts ist die Zeit gekommen, das Thema Parität in Parlamenten und Politik auf die Agenda zu setzen. Die Diskussion darum wird mit Sicherheit spannend – wie das letztlich ausgeht, werden wir sehen“, ruft Küppers und lacht.

Sie spielt auf die Vorschläge zur geplanten Wahlrechtsreform an, die Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble für Ende April angekündigt hat. Die steigende Zahl der Parlamentarier hat den Bundestag in den letzten Jahren stark aufgebläht, nun soll er wieder verkleinert werden. Im Zuge dieser Reform wittern Frauenverbände ihre Chance. Sie machen sich dafür stark, die theoretische Gleichstellung der Geschlechter auch praktisch umzusetzen – und zwar per Wahlgesetz.

„Bei der anstehenden Wahlrechtsreform muss die Geschlechterparität in den Parlamenten verankert werden. 50:50 ist das Ziel“, sagt Küppers. So argumentiert der Frauenrat, dass in einer repräsentativen Demokratie die Parlamente die Zusammensetzung des Wahlvolks annähernd widerspiegeln sollten. Das sieht die frauenpolitische Sprecherin der Grünen, Ulle Schauws, ähnlich. „Frauen müssen in politische Entscheidungsprozesse eingebunden sein und demokratisches Mitbestimmungsrecht haben. Das geht nur, wenn sie auch repräsentiert sind“, sagt Schauws.

„Frauen beanspruchen die Hälfte der Macht“

Der Anteil von Frauen im Bundestag liegt heute bei 30,9 Prozent, in den Landtagen variiert er zwischen 24 und 41 Prozent. Während den Ministerien im Schnitt etwa 40 bis 42 Prozent Frauen vorstehen, sind es bei den Bürgermeisterämtern nur 9,6 Prozent. Botschafterinnen hat das Auswärtige Amt genau 13,2 Prozent. „Und es gibt mehr Staatssekretäre mit dem Vornamen Hans als Frauen in dem Job. Das ist für uns nicht akzeptabel“, so Grünen-Sprecherin Schauws.

Zu den etwa neun Prozent Frauen, die es 1919 in die Nationalversammlung geschafft hatten, ist das zwar ein Fortschritt. Und es hat seitdem – nach gravierenden Rückschritten insbesondere im Nationalsozialismus – bereits wichtige Schritte in Richtung Gleichstellung gegeben: die familienpolitischen Reformen in den 1970er Jahren, die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe ab 1997, die Quotenregelungen für mehr gleichberechtige Teilhabe an Führungspositionen von 2015 und ein Jahr darauf die Reform des Sexualstrafrechts in Folge der Kampagne „Nein heißt Nein“. Doch trotz aller gesetzlichen Vorgaben bestehen innerhalb der Gesellschaft Unterschiede zwischen den Geschlechtern fort – gerade in den Bereichen Geld, Macht und Gewalt. Deshalb geht es bei aktuellen frauenpolitischen Forderungen darum, Gleichberechtigung von der Theorie in die Praxis zu übertragen. „Frauen beanspruchen die Hälfte der Macht und selbstverständlich auch Entscheidungsverantwortung in allen Bereichen der Gesellschaft“, sagt Grünen-Sprecherin Schauws.

© Frank Rumpenhorst/dpaVor hundert Jahren, am 19. Januar 1919, konnten Frauen in Deutschland zum ersten Mal wählen gehen. Die Ausstellung „Damenwahl“ im Historischen Museum Frankfurt zeigt Plakate als Zeugnisse dieser bewegten Zeiten.
© Frank Rumpenhorst/dpa

Vor hundert Jahren, am 19. Januar 1919, konnten Frauen in Deutschland zum ersten Mal wählen gehen. Die Ausstellung „Damenwahl“ im Historischen Museum Frankfurt zeigt Plakate als Zeugnisse dieser bewegten Zeiten.

Damit fordert Schauws, was der zweite Teil im Grundgesetz Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 ankündigt. Dort heißt es: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Bei dieser „tatsächlichen Durchsetzung“ von Gleichberechtigung hält der Staat nicht, was er verspricht. Das ist zumindest die Einschätzung von Maria Wersig, Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes. „Es geht nicht nur darum, formal gleiche Rechte zu haben, sondern diese auch in der Lebenswirklichkeit von Frauen und Männern umzusetzen. Frauen sind im öffentlichen Leben wie Politik, Wissenschaft, Wirtschaft unterrepräsentiert, sie verdienen weniger Geld als Männer und leisten einen Großteil der unbezahlten Care-Arbeit“, sagt Wersig.

In Deutschland übernehmen Frauen einen Großteil der versorgenden Tätigkeiten wie Haushalt führen, Kinder betreuen und Angehörige pflegen – diese Arbeit wird in der Regel nicht vergütet. Aber auch bei der Erwerbsarbeit gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede. So verdienen Frauen in Deutschland derzeit durchschnittlich 21 Prozent weniger als Männer, der sogenannte Gender Pay Gap. Und auch hier klafft wieder eine Lücke zwischen Theorie und Praxis: „Gleiche und gleichwertige Arbeit muss gleich bezahlt werden, das ist im deutschen und im Europa-Recht verankert. Allerdings fehlen – wie so oft – wirksame Mittel, dieses Rechtsprinzip umzusetzen“, sagt Rechtsexpertin Wersig.

Wirksame Mittel für mehr Ungleichheit seien dagegen immer noch verbreitet – wie etwa das Ehegattensplitting oder sogenannte Zuverdiener-Modelle wie steuerfreie Minijobs, die unter anderem das Problem von geringen Rentenansprüchen verschärfen. Hier tragen Frauen, gerade nach einer Trennung, das hauptsächliche Armutsrisiko. Mona Küppers fordert: „Klassische Frauenberufe müssen aufgewertet, also besser bezahlt werden. Warum ist die Arbeit von jemandem, die unsere Kinder erzieht, weniger wert als die von jemandem, der Autos zusammenschraubt?“

Nach hundert Jahren der nächste große Coup

Aber erst einmal liegt der Fokus von Küppers und dem Frauenrat auf ihrem nächsten großen Coup: Die Parität in den Parlamenten. Ihre aktuelle Kampagne dazu ist an diesem Donnerstag gestartet. „Wir kämpfen für die Parität in der Wahlrechtsreform. Das ist 2019 unsere Priorität“, sagt Küppers. Auf die Diskussion, ob ihre Forderungen verfassungskonform sind, reagiert sie genervt: „Als wäre Parität verfassungsfeindlich! Das kann ich nicht mehr hören. Es geht einfach um die Frage, was mehr Gewicht hat: Das im Grundgesetz verankerte Gleichheitsgebot oder das aktuelle Wahlrecht. Aber letztlich kommt es auf den politischen Willen an. Denn wenn der da ist, gibt es auch einen juristischen Weg.“

Hier pflichtet auch Maria Wersig bei: „Möglich ist mit dem entsprechenden politischen Willen einiges. Das sehen wir in Frankreich, wo sogar die Verfassung geändert wurde, um Änderungen im Wahlrecht zu ermöglichen. Und in Brandenburg wird voraussichtlich bald das erste Paritätsgesetz verabschiedet – das wäre ein wichtiger Meilenstein und Paradigmenwechsel.“ Allerdings plädiert der Deutsche Juristinnenbund dafür, lieber indirekte Anreize für mehr Frauenförderung in den Parteien setzen, das sei rechtlich weniger umstritten: „Wir wollen im Parteiengesetz die Verpflichtung der Parteien zur Frauenförderung verankern und gleichzeitig finanzielle Anreize setzen“, sagt Wersig. Bei Änderungen direkt im Wahlrecht geht der Juristinnenbund von größerem Widerstand aus. So sei auch die Staatsrechtslehre eher männerdominiert, die Diskussion über Maßstäbe gerechter Staatlichkeit werde hier nur sehr zögerlich geführt.

© picture-alliance / akg-images<p>Das historische Plakat „Heraus mit dem Frauenwahlrecht“ sollte für die „Rote Woche“ am 8.-15. März 1914 mobilisieren. Der Plakat-Entwurf stammt von Karl Maria Stadler.</p>
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Das historische Plakat „Heraus mit dem Frauenwahlrecht“ sollte für die „Rote Woche“ am 8.-15. März 1914 mobilisieren. Der Plakat-Entwurf stammt von Karl Maria Stadler.

Frauenratsvorsitzende Küppers lässt sich davon nicht beirren: „Für uns ist einfach klar: die Zeit ist reif.“ Seit 2017 sei der Anteil von Frauen im Bundesparlament so gering wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. „Und das kann es doch nicht sein“, ruft Küppers ins Telefon. „Ich sitze hier auf dem Bahnhof und sehe überall Frauen. Aber wo sind die in den Parlamenten? Da wo die Entscheidungen über ihre Lebensrealität getroffen werden? Frauen machen die Hälfte unserer Bevölkerung aus – und so sollten sie auch in der Politik vertreten sein.“