Fast zehn Jahre ist es her, dass Deutschland seinen Atomausstieg beschlossen hat. Aber noch immer streiten sich Bundesregierung und Energieversorger über die Folgen. Dabei geht es um Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe. In einem folgenreichen Urteil bestätigte nun das Bundesverfassungsgericht die Ansprüche des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall gegenüber der Bundesregierung. Die Entschädigungen müssen komplett neu geregelt werden. Eine Deadline für eine neue Atom-Gesetzesnovelle gibt es aber nicht.

Dass die Energieversorger mit massiven Summen für den Atomausstieg entschädigt werden würden, war auch vorher schon klar. Sie erwarten rund eine Milliarde Euro vom Bund. Wie und zu welchen Bedingungen, das wird im Atomgesetz geregelt. Die 2001 im ersten Ausstiegsgesetz zur Atomkraft festgelegten Laufzeiten bilden die Grundlage für die Entschädigungsansprüche der Energieversorger. 2010 war die damalige schwarz-gelbe Regierung unter Angela Merkel aus dem Ausstieg wieder ausgestiegen und hatte die Restlaufzeiten für die Atomkraftwerke um durchschnittlich zwölf Jahre verlängert. Im März 2011 ereignete sich die Reaktorkatastrophe in Fukushima und Deutschland beschloss wenige Monate später eine erneute Kehrtwende: den nun noch einmal beschleunigten Atomausstieg. Das bedeutete: Acht Meiler gingen sofort vom Netz, neun sollten nach und nach abgeschaltet werden, die drei letzten von ihnen im Jahr 2022 – aktuell sind noch sechs am Netz.

Die Energieversorger E.ON, RWE, EnBW und Vattenfall sahen sich um hohe Einnahmen aus dem Betrieb ihrer Atomkraftwerke betrogen und klagten vor dem Bundesverfassungsgericht. Das urteilte 2016, dass die Kehrtwende der Bundesregierung im Wesentlichen mit dem Grundgesetz vereinbar war. Den Energiekonzernen stehe aber für verkürzte Laufzeiten und sinnlos gewordene – im Fachjargon „frustriert“ genannte – Investitionen Entschädigungen zu. Zwei Jahre später verabschiedete die Bundesregierung dazu eine entsprechende Regelung, sie beinhaltete unter anderem, dass sie die Höhe der Entschädigungen erst 2023 festlegen würde. Denn erst dann würde feststehen, wie viele Reststrommengen von Betreibern tatsächlich nicht mehr verbraucht werden könnten und wie sich der Strompreis entwickelt. „Zudem sind Vorteile, die sich (...) durch den Wegfall des Betriebs der Atomkraftwerke ergeben, angemessen zu berücksichtigen“, schrieb das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit. E.ON, RWE und EnBW akzeptierten, Vattenfall klagte erneut.

Der schwedische Konzern hat eine Sonderrolle, denn seine beiden AKWs Brunsbüttel und Krümmel gehörten zu jenen, die mit sofortiger Wirkung abgeschaltet wurden. Anders als die anderen Energiekonzerne kann Vattenfall seine Reststrommengen also nicht auf andere Reaktoren verteilen. Zum Zeitpunkt des Ausstiegs 2011 befanden sie sich allerdings wegen mehrerer Pannen bereits in jahrelanger Reparatur.  Vattenfall wurde deswegen dazu verpflichtet, seine Reststrommengen an die anderen Unternehmen zu verkaufen, nur dann würde der Konzern auch Entschädigungszahlungen erhalten. Das habe die „massiven Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Energieversorgern noch einmal verschärft“, kritisierte Vattenfall in einer Stellungnahme. 

Von dem Urteil ist außerdem RWE mit seinem AKW Mühlheim-Kärlich betroffen. Dieses und die beiden Kraftwerke von Vattenfall hatten 2001 Strommengen zugewiesen bekommen, die sie nun nicht mehr produzieren können. Mühlheim-Kärlich war aber insgesamt nur 30 Monate in Betrieb, Grund dafür war ein fehlerhaftes Baugenehmigungsverfahren. Das war 1988, zurückgebaut wird es immer noch. Einen Teil der Reststrommengen durfte RWE auf andere Atomkraftwerke übertragen.

Das Bundesverfassungsgericht gab Vattenfall und RWE nun recht. Die Festlegung der Summe der Entschädigung im Jahr 2023 sei unzumutbar, genauso wie die Auflagen, um diese zu erhalten. Außerdem kamen die Richter zu der Erkenntnis, dass die Regelung der Bundesregierung gar nicht regulär in Kraft getreten sei. Dafür wäre eine Freigabe der EU-Kommission nötig gewesen, die bis heute nicht erteilt worden ist – offenbar, weil diese die deutsche Überarbeitung der Vorgaben für unzureichend hielt.

Während Vattenfall sich höchst zufrieden mit dem Urteil zeigt, reagieren Atomkraftgegner fassungslos. „Es ist schon bestürzend, dass durch handwerkliche Fehler bei der Formulierung von Gesetzen Steuergelder an AKW-Betreiber ausgeschüttet werden müssen“, sagt Jochen Stay, Sprecher der Anti-Atom-Organisation Ausgestrahlt. Die Kraftwerke Brunsbüttel und Krümmel wären wegen ihrer Pannen seiner Einschätzung nach auch ohne Atomausstieg nicht wieder ans Netz gegangen. „Dass es für die Unfähigkeit von Vattenfall, seine Kraftwerke ordnungsgemäß und sicher zu betreiben, nun auch noch Schadenersatz gibt, mag zwar juristisch korrekt sein, ist aber ein politisches Desaster“, sagt er. Experten gehen von einem dreistelligen Millionenbetrag aus, der nun zusätzlich fällig wird.

Jochen Stay erinnert zudem daran, dass die Energieunternehmen 2017 im Rahmen des Atomausstiegs finanziell schon einmal gut weggekommen waren. Damals hatten sie gemeinsam 24 Milliarden Euro für die Entsorgung des von ihnen verursachten Atommülls gezahlt und sich damit der gesamten Verantwortung dafür entledigt – die Summe liegt weit unter den erwarteten Kosten. Wo der Atommüll endgelagert werden soll, ist nach wie vor vollkommen offen. Ende September hatte die Bundesgesellschaft für Endlagerung eine Karte veröffentlicht, laut der 54 Prozent der deutschen Landesfläche sich geologisch dafür eignen würden. Bis 2031 soll das Endlager gefunden sein, ab 2050 soll darin Atommüll eingelagert werden.

Und die Zeiten des Rechtsstreits um den Atomausstieg sind noch nicht vorbei: Vattenfall klagt in der gleichen Sache noch vor einem internationalen Schiedsgericht in Washington. Dort fordert der schwedische Energiekonzern mehr als sechs Milliarden Euro Entschädigung, also einen weitaus höheren Betrag, als ihm laut aktuellen Schätzungen durch das Atomgesetz zusteht. Greenpeace-Atom-Experte Heinz Smital findet dafür deutliche Worte: „Es darf nicht sein, dass Vattenfall für ein und dieselbe Sache doppelt und überhöht entschädigt wird und sich den Atomausstieg auf Kosten der Bevölkerung vergolden lässt.“