Die rote Linie ist überschritten: Seit zwei Tagen demonstrieren KlimaschützerInnen gegen Abrissbagger – und verzögerten damit die geplante Erweiterung des Braunkohletagebaus Garzweiler. Die rote Linie, das ist für AnwohnerInnen und AktivistInnen das rund fünf Kilometer lange Stück der Landstraße L277, das die rheinländischen Dörfer Keyenburg und Lützerath im Kreis Heinsberg verbindet. Für die Klimaschützer steht die Straße symbolisch für die Einhaltung des 1,5-Grad-Klimaziels.

Schon am Sonntag demonstrierten rund 800 Menschen bei Keyenberg für den Erhalt der L277. RWE hatte Anfang dieser Woche angekündigt, die Verbindungsstraße zu den bedrohten Dörfern am Garzweiler-Tagebau ab Montag zu sperren und mit dem Abriss zu beginnen.

Doch dann ging alles viel schneller: Schon am Sonntagabend wurde die Straße gesperrt. Die DemonstrantInnen fürchteten, dass die Bagger schon am frühen Montagmorgen anrücken. Viele von ihnen blieben bis spät in die Nacht auf der Straße. Vierzig Menschen positionierten sich nach Aussagen der AktivistInnen in der Nähe des Dorfes Lützerath auf der Straße. Aufgetaucht seien die Bagger dann jedoch auf der anderen Seite, bei Keyenberg, gegen fünf Uhr morgens.

Wir hielten im Dunkeln Mahnwache, plötzlich leuchteten grelle Lichter auf: Zwei große Abrissbagger kamen auf uns zugefahren, die auch direkt vor uns damit begannen, die Straße aufzureißen“, sagt Alex, einer der AktivistInnen vor Ort, der anonym bleiben möchte. Er engagiert sich seit Jahren für Klimagerechtigkeit und den Erhalt der Dörfer am Garzweiler Grubenrand. „In mir stieg Wut und Fassungslosigkeit auf und mir war klar: Ich muss diesen Bagger jetzt stoppen!" Der 32-jährige Aktivist sah nach eigenen Angaben eine Lücke im Absperrzaun, stürmte los und erklomm kurzerhand einen der Bagger. Knapp vier Stunden blieb er auf dem Bagger sitzen und verhinderte den Betrieb.

RWE reißt die Straße in einem Tempo auf, das uns alle erschüttert. Zwar wurde der Asphalt schon gestern auf der Hälfte der L277 weggerissen – aber wir werden RWE die Straße nicht kampflos überlassen“, sagt Dorothee Häußermann, eine der Sprecherinnen der Initiative „Alle Dörfer bleiben“ am Dienstag. Bis zum Mittag blockierten zwei Gruppen von Menschen die Abrissarbeiten, einige von ihnen waren seit Sonntagabend schon auf der Straße. Mittlerweile ist die Blockade aufgelöst, der Asphalt der Straße entfernt. Trotzdem hat sich für Mittwoch ein Bündnis aus Jugendorganisationen angekündigt, um die Proteste gegen RWE und den Ausbau des Tagebaus zu unterstützen.

Eine Hundertschaft der Polizei rückte an, um die Landstraße im Kreis Heinsberg zu räumen – ein Aktivist war auf einen der Bagger geklettert

Eine Hundertschaft der Polizei rückte an, um die Landstraße im Kreis Heinsberg zu räumen – ein Aktivist war auf einen der Bagger geklettert

"Die L277 ist auch eine symbolische Grenze, die RWE nicht überschreiten darf. Wenn sie weg ist, liegen die Dörfer offen und schutzlos vor den Baggern", sagt Häußermann. Die Verabschiedung des Kohleausstiegsgesetzes am 3. Juli 2020 war für die Klimaschutzbewegung ein herber Rückschlag, gerade im Rheinland. Fünf weitere Ortschaften in der Nähe des Tagebaus Garzweiler sollen bis zum Kohleausstieg abgebaggert werden. RWE sagt, die Kohle unter den Dörfern sei notwendig, um den Kohlebedarf bis 2038 zu decken, im Gesetz selbst ist diese Annahme mit der Formulierung „energiewirtschaftliche Notwendigkeit des Tagebaus Garzweiler inklusive des 3. Umsiedlungsabschnitts“ festgeschrieben worden. Doch gerade diese Notwendigkeit wird von vielen Akteuren angezweifelt. Ein Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin (im Auftrag von Greenpeace) hatte bereits im Mai 2020 festgestellt, dass ohne die Umsiedlung der Dörfer und bei Erhalt des Hambacher Waldes dort und im benachbarten Tagebau Garzweiler noch bis zu 801 Millionen Tonnen Kohle gewonnen werden können. Für eine Verstromung bis 2038 würden im Rheinland jedoch nur 630 Millionen Tonnen Braunkohle benötigt.

Die Pläne von Bundesregierung und RWE sind laut der Studie auch mit den Klimazielen nicht vereinbar: Um die globale Erhitzung zu begrenzen, dürfen aus den Tagebauen Hambach und Garzweiler II ab Januar 2020 nur noch insgesamt 280 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert werden – das entspräche einem Kohleausstieg bis spätestens zum Jahr 2030. Das Fazit der Studie: Wenn aus den Tagebauen Hambach und Garzweiler nur so viel Braunkohle verstromt werde, dass die deutschen Klimaschutzziele eingehalten würden, müssten keine weiteren Dörfer abgebaggert werden.

Auf diese Erkenntnisse stützt sich die Gemeinschaft „Menschenrecht vor Bergrecht“, die eine Verfassungsbeschwerde gegen das Kohleausstiegsgesetz angekündigt hat. Auch andere Verbände wollen klagen, etwa die Deutsche Umwelthilfe. Sie könnten, wenn sie erfolgreich sind, eine Verschärfung des Kohleausstiegsgesetz erzwingen – doch wann?

Im Rheinland schafft RWE derweil Fakten. Zu den Abrissplänen der L277 ließ der Konzern verlauten: „Sperrung und Rückbau der L277 kommen für die Bürger der betroffenen Orte nicht überraschend, sondern waren lange absehbar“, heißt es in einer Mitteilung des Konzerns. „Der Tagebau Garzweiler wird als einziger Tagebau im Rheinischen Revier über 2030 hinaus fortgeführt. So ist es im Kohleausstiegsgesetz geregelt – und so war es bereits im Ergebnis der Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung angelegt. RWE wird die Hauptlast des deutschen Braunkohleausstiegs tragen und bis 2030 etwa zwei Drittel ihrer Kraftwerkskapazität im Rheinischen Revier stilllegen.“ Die verbleibenden Kraftwerke müssten aber weiter mit Kohle versorgt werden, und die könne ab 2030 eben nur noch in Garzweiler gewonnen werden, so der Konzern. Mit dem Kohlegesetz im Rücken können nur Verfassungsklagen die Abbaupläne des Konzerns stoppen – oder Aktivistinnen und Aktivisten.

„Die Kohle unter den Dörfern muss im Boden bleiben, damit Deutschland die Pariser Klimaziele einhalten kann“, ist Alex W., der Bagger-Besetzer, überzeugt. Er und seine MitstreiterInnen sind entschlossen, den weiteren Ausbau des Tagebaus zu verhindern. „Uns wird oft gesagt, dass wir nichts ändern können. Aber manchmal reicht schon ein Mensch, um einen Bagger zu blockieren", sagt er. „RWE und die Politik hat die rote Linie überschritten - wie auch den Hambacher Forst werden wir nun mit tausenden Menschen die Dörfer verteidigen und retten.“