Der Brasilianer Sebastião Salgado hat am Sonntag den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekommen. Er ist der erste Fotograf, der die mit 250.000 Euro dotierte Auszeichnung erhält. Seit fast siebzig Jahren ehrt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels damit Persönlichkeiten aus Literatur, Wissenschaft oder Kunst, die „zur Verwirklichung des Friedensgedankens“ beigetragen haben. Sebastião Salgado hat das zweifelsohne getan. Dennoch stellt sich die Frage: Warum erst jetzt?

Salgados Werdegang ist lang. Ursprünglich hatte er Wirtschaftswissenschaften studiert. Als er  aufgrund seines Engagements gegen die Militärdiktatur in seinem Heimatland Brasilien nicht mehr sicher war, floh er 1969 nach Paris. Als Ökonom betreute er Entwicklungshilfeprojekte in Afrika, erst später begann er zu fotografieren.

Erschütternde Zeugnisse von Zerstörung, Leid und Armut

Stringent in Schwarz-Weiß widmete er sich von Krieg und Ausbeutung gezeichneten Menschen: Er fotografierte die Spuren des Völkermordes in Ruanda und die von irakischen Truppen in Brand gesteckten Ölquellen in der Wüste Kuwaits. Er dokumentierte die katastrophalen Arbeitsbedingungen der Goldminenarbeiter in der Serra Pelada in seinem Heimatland und er reiste in Südamerika, Asien, Afrika und Europa Flüchtlingsströmen hinterher. Seine Bilder zeigen schmerzverzerrte Gesichter, hoch aufsteigende Rauchsäulen, vom harten Leben gebeugte Körper. Es sind diese Fotos, die ihn zu einer Ikone machten. Sie sind erschütternde Zeugnisse von Zerstörung, Leid und Armut. Dafür hat er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ohne Frage verdient.

Diese Bilder brannten sich aber auch in seine Seele ein. „Ich habe so schreckliche Dinge gesehen, so viel Brutalität, so viel Gewalt“, sagte der 75-Jährige einige Tage vor der Verleihung der Deutschen Presseagentur. „Ich hatte den Glauben an die Spezies Mensch verloren.“ Daraus rettete er sich mit einem radikalen Sujet-Wechsel: Statt des Kaputten zeigte in seinen späteren Fotografien das Heile: Natur, Wildheit, Reinheit – und das mit großer Geste. In seinem Monumentalwerk „Genesis“ springen Zügelpinguine von einem majestätischen Eisberg auf den Südlichen Sandwichinseln in die raue See, liegen Sanddünen unberührt in Algerien und verharren faszinierende Meeresechsen auf den Galapagosinseln reglos vor der Kamera. Salgado gründete das gemeinnützige „Instituto Terra“, mit dem er die ehemalige Rinderfarm seiner Eltern in ein Naturschutzgebiet verwandelte. „Ich habe entdeckt, dass es auf diesem Planeten nicht nur Menschen gibt. Was auch immer mit uns passiert: Der Planet wird da sein. Seit ich das weiß, kann ich in Frieden leben“, sagt der Fotograf.

"Rückwärtsgewandt" und die Wirklichkeit verklärend

Sebastião Salgado mache „die geschändete Erde ebenso sichtbar wie ihre fragile Schönheit“, heißt es in der Begründung zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er verleihe der „weltweit geführten Debatte um Natur- und Klimaschutz Dringlichkeit“. Mit seinen Naturfotografien beschwört er aber auch Sehnsuchtsorte herauf, die es so nicht mehr gibt. Er stilisiert das Pure und Unberührte und scheut nicht die ästhetische Überhöhung. „Salgado betreibt Fetischisierung der Natur“, urteilte die Kulturkritikerin Daniele Muscionico letztes Jahr in der Neuen Zürcher Zeitung. Das sei ebenso massentauglich wie fahrlässig. „Rückwärtsgewandt“ findet das auch die Essener Professorin für Dokumentar-Fotografie Elisabeth Neudörfl.

Gleichsam tut er das in seiner Darstellung von indigenen Bevölkerungsgruppen. Er zeigt äthiopische Mursi- und Surma-Frauen, die ihre Unterlippen mit großen Platten erweitern. Er porträtiert die brasilianischen Zo'é, die sich hölzerne Pflöcke durch Unterlippe und Kinn stoßen. Er bat sie für die Bilder keine Second-Hand-Kleidung zu tragen, wie sie es heute oft tun. Sie sollten wild aussehen, ursprünglich, so wie früher. „Salgados Menschenbilder muten an wie ins 21. Jahrhundert übersetzte Völkerschauen“, lautet Daniele Muscionicos hartes Urteil zu derlei Porträts. Sie erinnern an die Faszination der Exotik und des Fremden längst vergangener Zeiten.

Wer das Heile zeigen will, darf das Kaputte nicht aussparen

Er wolle ein Bewusstsein dafür schaffen, wie wundervoll und vielfältig die Natur und die Menschen seien, sagt Salgado. Er bedient aber auch einen Voyeurismus, der schon lange nicht mehr zeitgemäß ist. In seinem nächsten Buch will er sich der Artenvielfalt und den Ureinwohnern der Amazonas-Region widmen. Angesichts von Waldbränden, riesigen Monokulturen und Vertreibung wird es ein Kunststück werden, diesen Ort unberührt aussehen zu lassen. Zeitgemäß und auch im Sinne des frisch erhaltenen Friedenspreises wäre es, das Heile und das Kaputte zu zeigen. Denn schwarz-weiß ist die Welt nur in Salgados Bildern.