Es sollte der ganz große Wurf werden, mit dem alle Lager leben können: Der im Januar erzielte Kohlekompromiss zwischen Forschern, Gewerkschaften, Umweltschützern und Industrievertretern. Doch mehr denn je wird um den Kohleausstieg in der Öffentlichkeit gerungen. Seit Monaten demonstrieren junge Menschen unter dem Motto „Fridays for Future“ für eine vorausschauende Klimapolitik. Und im Rheinischen Braunkohlerevier versammeln sich in den kommenden Tagen, zwischen dem 19. und dem 24. Juni, wieder tausende Menschen, um mit Aktionen zivilen Ungehorsams die klimaschädliche Kohleindustrie zu blockieren.

Die Polizei rechnet mit bemerkenswerten 20.000 Demonstranten. Aber warum? Waren sich nicht alle einig, Anfang des Jahres? Im Juni 2018 war von der Bundesregierung die Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung, eingesetzt worden. Diese Kohlekommission, bestehend aus den unterschiedlichsten Interessenvertretern, sollte das Ausstiegsdatum aus der klimaschädlichen Kohleverstromung beschließen und Vorschläge für Übergangsmaßnahmen vorschlagen. Nach langem Hin und Her lag Ende Januar der Abschlussbericht des Gremiums vor – verfasst als Handlungsvorlage für die Bundesregierung: Bis 2038 sollen die letzten Kohlekraftwerke in Deutschland abgeschaltet werden und die davon betroffenen Regionen vierzig Milliarden Euro Strukturhilfe bekommen. Mit dem Geld sollen in den betroffenen Regionen neue Forschungsinstitute, Industriebetriebe und Behörden angesiedelt werden – und bis zu 5000 neue Arbeitsplätze entstehen. Außerdem sollen die Energiekonzerne für das vorzeitige Abschalten der Anlagen entschädigt werden und der Hambacher Forst, wenn möglich, nicht gerodet werden.

Fast alle Kommissionsmitglieder stimmten diesem Beschluss zu, darunter auch Martin Kaiser, einer der Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland, Antje Grothus, Koordinatorin der Klima-Allianz Deutschland und Hubert Weiger, der Vorsitzende des BUND. Die Bundesumweltministerin Svenja Schulze sah im Ergebnis der Kommission ein gutes Signal an die internationale Gemeinschaft, der Direktor der Organisation Agora Energiewende nannte den Kompromiss gar eine „Sternstunde für unser politisches System“. Waren sich also Industrie und Zivilgesellschaft nach jahrzehntelangem Streit einfach einig geworden?

Die kurze Antwort: Nein. In einer gemeinsamen Erklärung erläuterten Kaiser, Grothus und Weiger schon im Januar, dass sie unterzeichnet hätten, um einen klimapolitischen Stillstand Deutschlands der letzten Jahre zu durchbrechen – mit dem genannten Ausstiegsdatum seien sie aber nicht einverstanden. Sie plädieren für einen detaillierteren und ambitionierteren Klimaschutzplan und für den Stopp der Kohleverstromung in Deutschland bis 2030.

Seit Ende Mai rumort es aber nun auch öffentlich in der Union: Die Milliardenhilfen für den Strukturwandel in der Lausitz, im Mitteldeutschen und im Rheinischen Revier liegen der Fraktion schwer im Magen. Bis Ende Juni soll ein Gesetz vom Bundeskabinett beschlossen werden, dass die Finanzspritzen für diese Regionen auf den Weg bringt und dann vom Bundestag genehmigt werden muss. Doch eine Gruppe von Abgeordnete aus Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Niedersachsen warnten vor steigenden Strompreisen, Gefahren für die Versorgungssicherheit und Produktionsverlagerungen ins Ausland. Der CDU-Finanzpolitiker Olav Gutting erklärte gegenüber der Tagesschau: „Die Verteilung von Milliarden-Steuergeld mit der Gießkanne auf die betroffenen Regionen wird dort keine blühenden Landschaften schaffen. Es ist unsere verdammte Pflicht, mit dem sauer verdienten Geld der Bürgerinnen und Bürgern sorgsam und überlegt umzugehen." 

Auch aus der Grünen-Fraktion wird das Regierungsvorgehen kritisiert: „Die Bundesregierung zäumt das Pferd von hinten auf", sagte der Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter der Rheinischen Post. „Natürlich müssen die vom Kohleausstieg betroffenen Regionen unterstützt werden, aber jetzt schnürt sie ein Finanzpaket, ohne den Kohleausstieg auf den Weg zu bringen."

Bis jetzt ist also trotz Kohlekompromiss außer vieler Worte, viel Streit um Geld und vager Versprechen für den Erhalt des Hambacher Waldes nichts passiert. Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Kantar im Auftrag von Greenpeace spricht sich eine deutliche Mehrheit der Deutschen (83 Prozent) für eine dauerhafte Rettung des Hambacher Waldes aus. Doch obwohl RWE im Februar erklärte, bis 2020 auf eine Rodung des Waldes zu verzichten, eine endgültige Rettung des Waldes ist noch nicht in Sicht.

Auch deswegen versammeln sich in den kommenden Tagen im Rheinland wieder zehntausende Klimaschützer aus ganz Europa: Sie demonstrieren für einen sofortigen Ausstieg aus der Kohleindustrie. Parallel zum Aktionswochenende von Ende Gelände werden weitere Demonstrationen sowie Klimastreiks von Fridays for Future im Rheinland stattfinden. Im Vorfeld wandte sich die zuständige Aachener Polizei an alle Schulen im Raum Köln und Düsseldorf, um die SchülerInnen vor einer Teilnahme an Aktionen von Ende Gelände zu warnen: „Lassen Sie sich nicht für illegale Aktionen instrumentalisieren!“, hieß es in dem Anschreiben. Wenig später musste die Polizei jedoch in einigen Punkte zurückrudern: sie relativierte die Behauptung, dass „gewaltbereite Gruppierungen“ Teil des Bündnisses Ende Gelände seien und räumte ein, dass Blockadeaktionen grundsätzlich keine Straftat seien.

Die Kommunikation der Behörden vor den Protesten zeigt, dass die Angst vor den wachsenden Protesten anscheinend groß ist. Auch der Betreiber der Anlage im Rheinland, RWE, tritt in diesem Jahr konfrontativ auf: Das Online-Magazin Vice berichtet von einem RWE-Schreiben an den Pressesprecher von Ende Gelände, Daniel Hofinger. Darin fordern die Anwälte des Energieunternehmens eine Vertragsstrafe in Höhe von mindestens 50.000 Euro von Hofinger. Vice zitiert aus dem Schreiben: „Sie haben auf Twitter mehrfach zu Blockaden der Infrastruktur unserer Mandantin [RWE] aufgerufen und diese Blockade dann auch aktiv gefördert und unterstützt." Daniel Hofinger soll also nicht wegen zivilem Ungehorsam auf dem Gelände von RWE abgestraft werden, sondern wegen dem Aufruf dazu. Für ihn sei das ein klarer Angriff auf die Meinungsfreiheit, sagt Hofinger gegenüber Vice. „Und es ist eine Drohung an alle, die ihr Gesicht zeigen und sagen: Ich hätte gerne auch in Zukunft noch einen Planeten, der lebenswert ist." Sein Demonstrationsaufruf wurde derweil tausendfach geteilt. Die Debatte um Klimaschutz bleibt weiterhin hitzig.