Liebe Leserinnen und Leser,

Normalerweise liebe ich den Moment im Jahr, wo ich frühmorgens zum ersten Mal bewusst die Vögel zwitschern höre: Ein fröhliches Konzert als Vorbote der wärmeren Zeit und der längeren Tage, jetzt kann es endlich losgehen mit dem leichteren Teil des Lebens, ohne dicke Wintermäntel und feucht gefrorene Mützen. Allerdings hätte ich nicht erwartet, dass mich dieser Moment 2023 bereits am zweiten Sonntag des Jahres ereilen würde. Es war warm wie im März und der erst eine Woche zurückliegende Silvestertag, an dem die bisherige deutsche Rekordtemperatur von bislang 17 auf unfassbare 21 Grad kletterte, wirkte auf einmal nicht mehr wie eine verrückte Ausnahme, sondern wie das neue Normal.

Nun weist mein Kollege Wolfgang Hassenstein mich ornithologischen Voll-Laien darauf hin, dass morgendliche Vogelstimmen im Januar durchaus nicht unüblich sind. Als studierten Biologen und federführenden Redakteur unserer kommenden Ausgabe, in der es passender Weise um die Welt der Vögel geht, vertraue ich ihm da voll und ganz. 

Gleichwohl haben auch seine Recherchen ergeben, wie sehr das Leben der Vögel nicht nur in unserem Land in der jüngeren Vergangenheit durcheinander geraten ist. Das Verschwinden klassischer Lebensräume setzt ihnen ebenso zu wie die ungebremste Intensivlandwirtschaft, die ihre Speisepläne aus Würmern, Insekten und anderen Kleintieren ausradiert. Die Klimakrise lockt viele Zugvögel deutlich eher zurück und kann zu weiteren Nahrungsengpässen führen. Arten wie das Alpenschneehuhn, das es kalt und winterlich liebt, oder der Große Brachvogel, der es im Sommer feucht und nicht ganz so heiß mag, haben es ebenfalls schwer. Und auch meinem geschätzten Kollegen Hassenstein kommt das Vogelkonzert in diesen Tagen besonders laut vor. Dieser Winter ist nicht mehr normal.

Lützerath als Menetekel

Mich erinnert das gefühlte Frühlingskonzert im Januar an die Geschichten von den Kanarienvögeln, die früher von den Bergleuten mit in den Stollen genommen wurden. Ihre Atmung reagiert auf Kohlenmonoxid extrem empfindlich. Bereits eine geringe Veränderung des Luftgemisches genügt, dass die kleinen Tiere in Ohnmacht fallen – ein perfektes Frühwarnsystem, das die Arbeiter unter Tage auf gefährliche Gase hinwies und viele vor dem sicheren Tod bewahrte. Heute reagiert man auf die offenkundige Unordnung in der Natur mit all ihren Warnsignalen eher ungehalten. Jedenfalls haben sich die maßgeblichen Kräfte in Politik und Wirtschaft, die wirklich etwas verändern könnten, offenbar entschieden, die Kanarienvögel unserer Zeit einfach zu ignorieren.

Der Abschied der grünen Regierungspartei vom Klimaschutz, der sich diese Woche in Lützerath manifestierte, dieses traurige Auseinanderklaffen zwischen moralischem Anspruch und latenter Handlungsunfähigkeit bei ihren führenden Köpfen, werden nicht erst die „kommenden Generationen“ ausbaden, um die es in der politgrünen Weihrauchrhetorik angeblich immer geht. Sondern wir alle, heute schon. 

Es gehört wenig Fantasie dazu, für 2023 ein weiteres Jahr vorherzusagen, an dessen Ende klimakrisenbedingte Wetter- und andere Umweltkatastrophen Schäden in der Höhe von Hunderten Milliarden Euro verursacht haben werden. Jedes totgetrocknete Waldstück im kommenden deutschen Sommer, jede neue „Jahrhundertflut“, die Existenzen zerstört und Leben kostet, wird eben auch der grünen Unlust geschuldet sein, Klimakrisengewinnlern wie dem RWE-Konzern endlich Einhalt zu gebieten. 

Green Deal

Warum Lützerath so viel mehr ist als „ein Dorf, in dem kein Mensch mehr wohnt“ (Robert Habeck am Mittwochabend im ZDF), können Sie hier, hier und hier noch einmal in Ruhe nachlesen. Zusammengefasst: RWE darf bis 2030 deutlich mehr Braunkohle verfeuern als ursprünglich selbst vom Unternehmen erwartet und kommt so um das Problem herum, dass dies aufgrund der CO2-Preiserhöhungen im Europäischen Emissionshandel ab 2030 ohnehin unprofitabel werden würde. Die eigentlich beschlossene Stilllegung zweier Kohlekraftwerke wird aufgeschoben – die Milliardenprämie für die Schließung aus Klimaschutzgründen bekommt der Essener Konzern aber trotzdem. Das nennt man dann wahrscheinlich aktive grüne Sozialpolitik.

Man braucht seit dieser Festwoche für die Braunkohleverbrennung keinen Taschenrechner, um vorauszusagen, dass das grün mitregierte Deutschland auch 2023 wieder seine – völkerrechtlich übrigens verbindlichen – Klimaschutzziele krachend verfehlen wird. Auf Druck der klimaschädlichsten deutschen Unternehmen werden wohl auch in diesem Jahr keine wirklich wirksamen Gesetze zum Energiesparen und zur Ressourceneffizienz in der Industrie verabschiedet. Von einem Durchbruch in der bislang klimaschutzresistenten deutschen Verkehrspolitik ganz zu schweigen. Nicht einmal das. 

Sie kommen einfach nicht voran, da können noch so viele Kanarienvögel tot von der Stange fallen. Oder die Vöglein schon im Januar singen so laut singen als wäre grad der Mai gekommen.

Unterschrift

Fred Grimm
Redakteur

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