Liebe Leserinnen und Leser,

seit ich aus dem Herbstblätter-Sammelalter heraus bin, schaue ich eher melancholisch auf die sich lichtenden Kronen der Bäume. Wie schnell das alles geht – eben noch im T-Shirt abends draußen gesessen, und nun scheinen die nasskalten Tage schon zu enden, bevor sie überhaupt begonnen haben. Von solchen Herbstgefühlen ist der Sprung zu den anstehenden Koalitionsverhandlungen nicht weit. Denn auch hier, so scheint es, verflüchtigt sich gerade das Grün. Wer das Sondierungspapier, auf das sich die „Ampelparteien“ vorab geeinigt haben, durchliest, würde dabei nicht auf die Idee kommen, dass SPD und Grüne vor einem Monat bei den Bundestagswahlen zusammen vierzig und die FDP etwas über elf Prozent der Stimmen bekommen haben.

Vielleicht würde die trübe Herbststimmung nicht ganz so schnell einsetzen, stünde auf den zwölf Seiten irgendetwas Substanzielles zum dringend notwendigen Wandel bei der Mobilität, dem Natur- und Artenschutz oder in der Landwirtschaft. Jedenfalls schien der Ehrgeiz für eine radikale Klimakrisenpolitik deutlicher schwächer gewesen zu sein als der Einsatz der FDP für die Belange ihrer Klientel. Die durch großzügige Wahlkampfspenden befeuerten Interessen von Milliardären und Multimillionären, von Steuer„optimierern“ und Autobahnrasern, Immobilien- und Versicherungskonzernen, um nur einige zu nennen, wurden im Sondierungspapier offenbar ohne größere Widerstände gewahrt. Dass es keine „roten Linien“ geben dürfe, um die schöne „konstruktive Atmosphäre“ nicht zu gefährden, hatte die FDP bereits vorab gefordert, um dann ihrerseits Pflöcke wie die Schuldenbremse und den Verzicht auf Steuererhöhungen für Superreiche einzurammen. Nicht minder dreist erscheint die frühe Festlegung auf Christian Lindner als zukünftigen Finanzminister, vor allem wenn sie mit dem Satz verbunden wird, es sei jetzt „nicht die Zeit für Personaldiskussionen“.

Dass eigentlich so gut wie keine Fernsehjournalistin, kein Moderator – weder bei den öffentlich-rechtlichen Sendern, noch bei den Privaten – über diese wenig subtilen Machtanmaßungen einer Partei stolpert, die neun von zehn Deutschen nicht wählen mochten, passt zur großen medialen Erzählung, die wir aus dem Wahlkampf kennen: auf der einen Seite die hysterischen Ökos, die das Geld für irgendwelchen Unsinn mit Klimaschutz aus dem Fenster werfen wollen, dort die vernünftigen Liberalen mit ihrer „Wirtschaftskompetenz“, die das schwer verdiente Geld der Steuerzahler hüten. Vergangene Woche veröffentlichte das Netzwerk Klimajournalismus einen offenen Brief an die „Intendanten, Geschäftsführer und Chefredaktionen von ARD, ZDF, ProSiebenSat.1, RTL und NTV“ (das sind tatsächlich alles Männer). Darin bilanzieren und kritisieren die Fachjournalistinnen und -journalisten die Wahlkampfberichterstattung und beklagen, dass „das Thema Klima in allen Triell-Fragen nur als Kostenfaktor hingestellt“ worden sei. „Das meist genannte Wort war hier „teuer“.

An dieser Grunderzählung hat sich bis heute nichts geändert. „Große Pläne – aber woher kommt das Geld?“, fragt die ARD stellvertretend für die übrigen Sender mit Blick auf die Klimaschutzziele der Koalition, ganz so als handele es sei dabei nicht um längst überfällige Kosten zur Klimakrisenbekämpfung. Das derzeitige mediale Dauerfeuer („Wie teuer wird der Klimaschutz?“) wirkt, als würde man angesichts eines Großfeuers darüber streiten, ob man sich die Löschfahrzeuge wirklich leisten kann.

Hätten die Grünen bei den Sondierungen nicht auch zumindest mal eines ihrer Pflöckchen vorsichtig reinstecken können? So etwas wie einen Baustopp für neue Autobahnprojekte zum Beispiel, 25 Prozent Bio-Landwirtschaft bis 2025, zehn Prozent Naturschutzflächen bis 2030? Oder gar ein Best-of aus den sechs Forderungen der „Fridays for Future“-Bewegung, ohne deren Verwirklichung man die völkerrechtlich eigentlich bindenden Pariser Klimaschutzziele leider vergessen kann? Anders gefragt: Gibt es überhaupt auch nur eine grüne Kernforderung, die ihren zukünftigen Koalitionspartnern wirklich Zugeständnisse abverlangt und es in das Sondierungspapier geschafft hat? Angesichts steigender CO2-Preise glaubt doch schon heute kein Manager mehr ernsthaft daran, dass Kohlewerke in Deutschland wirklich bis 2038 in Betrieb bleiben oder im Jahr 2030 noch Autos mit Verbrennermotoren in deutschen Fabriken gebaut werden. Wenn das am Ende die großen grünen Verhandlungserfolge sein sollen, könnte man genauso gut verkünden, man habe sich darauf geeinigt, dass am 1. Januar 2022 das neue Jahr beginnt.

Natürlich ist das alles ein bisschen unfair. Beim Schreiben komme ich mir so vor wie einer der vielen Millionen Sofa-Bundestrainer, die regelmäßig zur Fußballweltmeisterschaft als plötzliche Taktikexperten zu großer Form auflaufen und ihre Fernseher anbrüllen. Aber, um in der Fußballanalogie zu bleiben: Wir sind bei der Klimakrise längst in der Nachspielzeit und vielleicht reicht nicht mal mehr das eine Glückstor nach einem wild geschlagenen hohen Ball in den Strafraum. Wir haben schlicht und ergreifend keine Zeit mehr für das Weiter-so.

Bleibt also nur zu hoffen, dass es nach diesem Herbst trotzdem so wird wie immer – der nächste Frühling kommt bestimmt. Und mit ihm das frische Grün.

Unterschrift

Fred Grimm
Redakteur