Liebe Leserinnen und Leser,

sie haben es tatsächlich geschafft. Ziemlich schnell und äußerst diskret haben sich die „Ampelparteien“ FDP, SPD und Grüne auf ihren Koalitionsvertrag geeinigt. Jedenfalls verglichen mit den quälenden Findungsprozessen mancher Vorgängerregierung. Ein Blick in das 177 Seiten umfassende Papier zeigt, warum das so rasch möglich war: Offenbar haben die Grünen selbstlos darauf verzichtet, ihre wichtigsten politischen Forderungen auch in den Vertrag hineinzuverhandeln.

Prinzip Hoffnung

Stellvertretend für viele Themenfelder hat sich der Spiegel den Bereich Verkehr genauer angesehen und dort sage und schreibe fünf Zeilen zur Fahrradpolitik gezählt. Der Artikel listet die geballte Ambitionslosigkeit bei der so dringend notwendigen Mobilitätswende erbarmungslos auf: Kein Tempolimit, nicht mal die Möglichkeit für Städte und Kommunen, eigenständig Tempo-30-Zonen einzuführen. Keine Beschränkung des Autobahnausbaus, kein Ende des Dienstwagen- oder Dieselsteuerprivilegs, keine ökologische Neuausrichtung der Pendlerpauschale. Deutschland bleibt auch unter teilgrüner Regierung ein Autoland, in dem Radfahrerinnen und Fußgänger durch ihre Steuern tonnenschwere „Dienst“wagen mitfinanzieren. Abgesehen von der sozialen Ungerechtigkeit ist die ausbleibende Mobilitätswende eine klimapolitische Katastrophe: der Bereich Verkehr ist derjenige in Deutschland, in dem die Treibhausgasemissionen seit 1990 unverändert hoch geblieben sind.

Man könnte reihum die vorgeblichen Kernkompetenzen der Grünen aufzählen und nach entsprechenden Plänen im Koalitionsvertrag suchen. Aber egal ob Natur- und Artenschutz, Tierwohl in der Landwirtschaft, Friedenspolitik – nirgendwo findet sich wirklich eine entschiedene Abkehr von der bleiernen Merkel-Zeit. Haben Grünenwählerinnen und -wähler ihre Partei am 26. September wirklich angekreuzt, damit die Bundeswehr endlich bewaffnete Drohnen bekommt und weiter aufrüstet? Der größte Erfolg der Grünen findet sich auf Seite 58. Dort heißt es: „Zur Einhaltung der Klimaschutzziele ist auch ein beschleunigter Ausstieg aus der Kohleverstromung nötig. Idealerweise gelingt das schon bis 2030.“

Idealerweise. Ein Wort, das den Geist der Vereinbarung aus grüner Sicht auf geradezu diabolische Weise perfekt beschreibt. „Idealerweise“ werden Umwelt-, Klima- und Artenschutz, die überfällige Verkehrs- und Agrarwende in den kommenden vier Jahren wirklich angegangen. Aber eben nur idealerweise. Oder sehe ich das zu kritisch? Ist so ein Einstieg in eine etwas ökologischere Politik besser als nichts oder gehören auch Sie zu den Enttäuschten, die sich einfach mehr Konkretes gewünscht hätten. Bitte schreiben Sie uns gern Ihre Meinung.

Männerrunden

Idealerweise hätte bei der Abfassung des Koalitionsabkommens auch die eine oder andere PolitikerIN ein Wörtchen mitreden dürfen. Die wichtigsten Vorarbeiten leisteten die Generalsekretäre Michael, Volker und Lars. Als es dann ernst wurde, zogen sich Olaf, Robert und Christian zum Männergipfel zurück, meldeten atemlose TV-Reporter in der letzten Verhandlungsnacht. Insofern war die Verkündigung am Dienstag eine ziemlich ehrliche Veranstaltung: Der gefühlte Bundeskanzler Christian Lindner von der FDP, der bei den Verhandlungen nicht eine politische Position unter Schmerzen räumen musste, lobte SPD und Grüne gönnerhaft, sie könnten „stolz sein“ auf ihren Beitrag zum Koalitionsvertrag. Auf der Bühne standen sieben Herren, dazu nur zwei Frauen: Annalena Baerbock sowie die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, die Olaf Scholz seinem liberalen Koalitionspartner nicht als zukünftige Ministerin hatte zumuten wollen.

Im Deutschland des Jahres 2021 wird mit den Vizekanzlern Habeck (warum eigentlich nicht die Ex-Kanzlerkandidatin Baerbock?), Lindner und Herrn Scholz nun also ein rein männliches Triumvirat die zukünftigen Geschicke des Landes bestimmen. Für eine Frau wäre dort offenbar nur „idealerweise“ Platz gewesen.

Wilde Zeiten

Idealerweise käme auch das Wort „Wildnis“ im Koalitionsvertrag mehr als einmal vor, Teil eines konkreten politischen Vorhabens ist es jedenfalls nicht, so dringend das für den Schutz der Artenvielfalt auch wäre. Die Vorgängerregierung hatte sich eigentlich mal darauf verständigt, dass bis zum Jahr 2020 mindestens zwei Prozent der deutschen Landesfläche der Natur überlassen, also vor direkten menschlichen Eingriffen bewahrt wird. Europaweit strebt man sich bis 2030 sogar zehn Prozent an. Idealerweise. Doch bislang fallen hierzulande gerade mal 0,6 Prozent in diese Kategorie, viel zu wenig, wie die wichtigsten Natur- und Umweltschutzorganisationen in ihrer Ende 2020 ausgerufenen „Agenda für Wildnis“ beklagen. Wieviel Wildnis sein darf und sein muss und wie Mensch und Natur zu einer Art friedlicher Koexistenz zusammenfinden könnten, beschäftigt uns in der Redaktion gerade sehr. Wir wollen mehr Wildnis wagen und in unserem ersten Titel-Schwerpunkt des Jahres 2022 aufzeigen, warum das so wichtig ist und wie das gehen könnte. Unsere Redakteurin Teresa Kraft bricht demnächst auf ins Oder-Delta, wo eines der größten europäischen Rewilding-Projekte läuft. Unser Kollege Wolfgang Hassenstein recherchiert derweil der Frage nach, warum wir uns hierzulande so schwer damit tun, die Wildnis zuzulassen. Das wird ein sehr spannendes Heft, das Sie dann in einigen Wochen lesen können, vielleicht ja als Abonnentin oder Abonnent. Idealerweise.

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Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, bitte bleiben Sie gesund!

Unterschrift

Fred Grimm
Redakteur