Liebe Leserinnen und Leser,

Diese Geschichte, die Sie bis zum Ende lesen sollten, hört sich ausgedacht an, ist aber wahr: Am Mittwochabend traf ich zufällig einen Freund, den ich ewig nicht mehr gesehen hatte. Er saß in einem Straßencafé, hinter seinem wohl verdienten Feierabendbier, ein drahtiger Mann, Typ Manager, der nebenbei noch Marathon läuft – was aber nur zur Hälfte stimmt. Denn er schwimmt lieber weite Strecken anstatt zu laufen und die am allerliebsten in wilden Seen. Wo er genau arbeitet, verrate ich an dieser Stelle nicht, es geht um Luxuskonsum im weitesten Sinne, eben um alles, was die Welt nicht wirklich braucht.

Mit seinem speziellen Näschen hat er viel Geld verdient – dies aber nicht als Zyniker, dem außer seinem Kontostand alles egal ist, sondern als jemand, der leidenschaftlich liebt, was er tut. Und weil er dazu noch ein begnadeter Geschichtenerzähler ist, setzte ich mich gern zu ihm an den Tisch. „Ich habe den Wahl-O-Mat gemacht“, erzählte er mir nach wenigen Sekunden. „Du weißt, eigentlich bin ich FDP.“ Er trank einen Schluck. „Oder sollte ich sein.“ Der Wahl-O-Mat sah das offenbar anders.

Und dann legte er los, berichtete von seiner Firma, die gerade hektisch nach klimaneutralen Produktionsverfahren und Materialien forscht („Wir haben die Wahl zwischen ‚es wird teuer‘ und ‚wir sind tot‘“), und von einem quälenden Grundgefühl, das sich auf drei Worte bringen lässt: „We are fucked.“ Entschuldigen Sie bitte die Ausdrucksweise, aber das Bild, dass dieser eigentlich erzkapitalistische Unternehmer mittlerweile vom Zustand der Erde hat, liegt nicht mehr besonders weit von dem entfernt, was „Fridays for Future“-Aktivistin Luisa Neubauer in dieser Woche bei Markus Lanz im ZDF verbreitete: „Willkommen in der Klimakrise.“ 

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber je näher der Wahltag rückt, umso größer wird der berühmte Elefant im Raum, den jeder sieht, obwohl es kaum ein Wahlkämpfender zugibt. Die Welt ist mittlerweile dermaßen aus den Fugen geraten, dass ein paar sanfte Korrekturen unserer Art zu leben und zu wirtschaften nicht mehr ausreichen werden, und das haben sicherlich auch diejenigen Politikerinnen und Politiker längst begriffen, die das Thema Klimakrisenfolgen so kurz vor dem Urnengang lieber nicht mehr öffentlich diskutieren möchten.

In einem angenehm selbstkritischen Text hat Peter Unfried, Autor bei der taz, diese Woche eine Bilanz dieses Wahlkampfes gezogen und die „Entpolitisierung der Politik“ durch die Medien beklagt. Tatsächlich wurde mehr über vermeintliche „Aufholjagden“ berichtet (schon wieder ein halber Umfrageprozentpunkt mehr für die Union), über zukünftige Finanzminister, rotgrünschwarzrosarote Koalitionsfarbenspiele, „Spacken“, Lastenfahrräder oder Kinderfragen als über die wirklichen Zukunftsfragen. Was sich wie Standardgenöle kurz vor dem Wahltag lesen mag, ganz so, als wolle man noch mal seine intellektuelle Unterforderung in diesem Politzirkus zur Schau stellen, trifft in Wahrheit genau uns, die Engagierten, die grün angehauchte Blase. Wir haben es offenbar auch diesmal nicht geschafft, das Menschheitsthema so in den Mittelpunkt des Wahlkampfes zu stellen, dass die Planlosigkeit der meisten Parteien beim Klimaschutz allen Wählerinnen und Wählern wirklich deutlich geworden ist. Und erst recht nicht, was das mit ihrem Leben zu tun haben wird. Sie werden noch einmal davonkommen, die Parteien, die irgendwie schon immer da waren, und letztlich für ihre Klimaschutzblockaden der vergangenen Jahre mit viel zu vielen Prozentpunkten belohnt. Daran ändern wohl auch die eindrucksvollen Bilder vom großen Klimastreik am heutigen Freitag nichts mehr, an dem zehntausende junger und jung gebliebener Menschen in Deutschland für ihre Zukunft demonstrierten. 

Noch einmal kurz zurück zu meinem Freund hinter dem Bierglas. Er hat lange überlegt, wen er wählen soll, der leere Briefwahl-Stimmzettel lag drei Tage lang auf seinem Tisch. Dann kam ihm die rettende Idee. Er rief seine Teenagertochter zu sich und drückte ihr den Kugelschreiber in die Hand: „Mach Du! Wir haben es versaut.“

Die Geschichte, wie gesagt, ist wahr, so unwahrscheinlich sie auch klingt. Wäre es nicht schön, wenn ganz Deutschland es am Sonntag so machen würde wie mein Freund? Symbolisch jedenfalls. Wählen wir einfach mal nicht für uns, sondern für das, was von dieser Welt noch übrig sein soll, wenn unsere Kinder selber Kinder kriegen.

Ich wünsche Ihnen schon jetzt einen optimistischen Montagmorgen.

Unterschrift

Fred Grimm
Redakteur