Liebe Leserinnen und Leser,

ich komme aus Sachsen und lebe heute in Hamburg. Wenn ich vom Norden aus in meine Heimat schaue, bin ich oft in Sorge. In den vergangenen Wochen war erstmals nicht die politische Lage im Land der Grund dafür, sondern die ökologische. Es brennt im vielleicht wunderbarsten Stück Natur, dass wir dort haben, es brennt im Nationalpark Sächsische Schweiz. Auch nebenan auf der tschechischen Seite im Nationalpark Böhmische Schweiz lodern die Glutnester immer wieder auf, kämpfen Feuerwehrleute und Ehrenamtliche auf Hunderten Hektar gegen die Flammen. Kindheitserinnerungen an schroffe Felsnadeln im tiefen Wald tauchen auf.

Und es brennt nicht nur in Sachsen, nein, auch in Brandenburg und sogar im Berliner Grunewald. Es brennt in Portugal, Spanien, Frankreich. Es brennt in Italien, Albanien und Montenegro. In der Ukraine und in der Türkei. Eine neue Hitzewelle rollt durch Europa. Hitze und Dürre verstärken sich gegenseitig.

Dramatische Bilder von Großbränden und Fluten schaffen es zuverlässig ins Fernsehen. Die Klimakrise ist nach Jahrzehnten der Warnungen in den Hauptnachrichten angekommen, denn man kann sie jetzt sehen. Zur gleichen Zeit aber und doch im Verborgenen spielt sich eine Katastrophe ab, die ebenso groß, ebenso bedrohlich, ebenso akut, aber schwerer zu filmen ist, ein stilles Sterben – das Artensterben.

Nicht von ungefähr nannte die US-amerikanische Biologin Rachel Carson ihr berühmtes Buch „Der stumme Frühling“. Von Pestiziden vergiftet, ihrer Lebensräume beraubt, verschwinden Insekten und Vögel ohne großen Knall. Das Summen wird leiser, das Zwitschern spärlicher – bis Wiesen und Felder eines Tages still daliegen. Kein Aufschrei, bis es zu spät ist.

Carson schrieb ihren Umweltklassiker vor sechzig Jahren. Vor dreißig Jahren beschlossen die Vereinten Nationen auf dem „Erdgipfel“ von Rio de Janeiro erstmals ein internationales Abkommen zum Schutz der biologischen Vielfalt. Seither gab es mehr als ein Dutzend UN-Biodiversitätskonferenzen, auch Weltnaturgipfel genannt. Doch anders als die Klimakonferenzen von Kyoto, Kopenhagen oder Paris, sind die Artenkonferenzen von Nassau, Nagoya oder Pyeongchang kaum im kollektiven Gedächtnis geblieben. Anders als der Weltklimarat IPCC ist sein Zwillingsgremium, der Weltbiodiversitätsrat IPBES, noch immer eine Abkürzung für Eingeweihte. Und ein völkerrechtlich starkes Übereinkommen wie der Klimavertrag von Paris fehlt im Kampf um Vielfalt des Lebens bis heute.

Dabei bedeuten Löcher im Netz des Lebens nicht einfach nur die Ökotrauer um ikonische Tiere wie das Nördliche Breitmaulnashorn. Wachsende Löcher in diesem Netz, das uns alle trägt, führen nach und nach zum Zusammenbruch ganzer Ökosysteme und vermindern so profan gesprochen die „Leistungen“ der Natur: sauberes Wasser etwa, Nahrung oder auch die Fähigkeit, Treibhausgase aufzunehmen. (Noch mehr) Hunger, (noch mehr) Krankheiten, (noch mehr) Armut, eine weiter beschleunigte Klimaerhitzung wäre die Folge. Wohl auch (noch mehr) Kriege. Die Krisen bedingen einander.

Im Frühjahr 2019 machte eine Zahl Schlagzeilen: eine Million Arten. So viele Spezies, etwa jede achte, könnte ohne Gegensteuern noch in diesem Jahrhundert aussterben, warnte der IPBES in seinem Bericht zum globalen Zustand der Natur. Und vor drei Wochen erst – wiederum eher still – veröffentlichten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt eine neue Schätzung zur Naturkrise. Der zufolge könnte sogar jede dritte Art vor dem Aussterben stehen oder seit 1500 bereits ausgestorben sein.

Nie seit dem Ende der Dinosaurier vor 66 Millionen Jahren verschwanden so viele Arten in so kurzer Zeit wie heute. Im symbolisch unmissverständlich gewählten Sauriersaal des Naturkundemuseums Berlin präsentierten führende Forschende Ende Mai eine „Berliner Erklärung: Für die Zukunft der Menschheit“. Darin fordern sie die Bundesregierung dazu auf, die deutsche G7-Präsidentschaft zu nutzen und zum Beispiel deutlich mehr Geld als bisher für die Rettung der Vielfalt zur Verfügung zu stellen und dafür Milliarden Euro umweltschädliche Subventionen zu streichen.

Ende des Jahres steht der Weltnaturgipfel in Montreal an. Und er bekommt glücklicherweise bereits jetzt mehr Aufmerksamkeit als die UN-Artenschutzkonferenzen zuvor. Eigentlich sollte der Gipfel schon 2020 im chinesischen Kunming stattfinden. Wegen Corona wurde er immer wieder verschoben und schließlich nach Kanada verlegt. Auf diesem Gipfel (COP 15) ruhen nun immense Erwartungen. Die Wissenschaft erhofft sich – analog zum Paris-Moment fürs Klima – einen Kunming-Moment der Biodiversität.

Wie wahrscheinlich der ganz große Ruck angesichts vieler scheinbar drängenderer Krisen ist, wissen auch wir in der Redaktion nicht. Aber wir möchten – wie stets – Hoffnung verbreiten und über Lösungen sprechen. Deshalb haben wir der „Mission Vielfalt“ im neuen Greenpeace Magazin einen Schwerpunkt gewidmet.

Mein Kollege Wolfgang Hassenstein und ich haben für dieses Heft mit dem Agrarbiologen Josef Settele gesprochen. Er war 2019 federführend an dem alarmierenden IPBES-Bericht beteiligt und hat uns in einem Naturschutzgebiet nicht nur Schmetterlinge gezeigt, sondern uns auch mit seinem Optimismus und Witz beeindruckt. Außerdem stellen wir Artenschutzprojekte von Luchs bis Würfelnatter vor, klären im großen Report, wie ganz Deutschland eine blühende Insektenlandschaft werden kann und besuchen einen nicht-menschlichen Artenschützer: Der Biber baut und staut und schafft so einen Lebensraum für sich selbst – und viele andere Spezies.

Auch für unsere Geschichten abseits des Titelthemas waren wir in großartiger Natur unterwegs. Unsere Kolleginnen Christine Wollowski und Tuane Fernandes haben die indigene Politikerin Vanda Witoto einige Tage lang bei ihrem Wahlkampf im brasilianischen Regenwald begleitet. Sie kandidiert gemeinsam mit anderen Indigenen bei der Parlamentswahl im Oktober, um Jair Bolsonaros zerstörerischer Politik die Stirn zu bieten.

Ich wünsche Ihnen viel Freude mit der neuen Ausgabe und ein Wochenende mit erträglichen Temperaturen.

Das neue Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder ab dem 10. August im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone.

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Unterschrift

Katja Morgenthaler
Redakteurin