Liebe Leserinnen und Leser,
alles, was man zu diesem, seinem Ende entgegen taumelnden Krisenjahr 2022 hätte sagen können, hat meine Kollegin Kerstin Eitner vergangenen Freitag in ihrer unvergleichlichen Art bereits getan. Ich möchte kurz vor den Festtagen noch ein großes Dankeschön hinterher schicken. An Sie, die vielen Bezieherinnen und Bezieher der Wochenauslese, von denen die meisten zugleich auch unser Magazin abonniert haben und so unsere journalistische Arbeit überhaupt erst möglich machen.
Es war kein einfaches Jahr für alle, die an die Wichtigkeit und Schönheit glauben, regelmäßig ein gedrucktes Heft zu verschicken. Die Papier- und Logistikpreise stiegen in atemberaubende Höhen und wir, die wir als Greenpeace Magazin keine Anzeigen annehmen, sondern uns ausschließlich durch unsere Leserinnen und Leser finanzieren, versuchen das so gut wie möglich abzufangen, ohne an der gewohnten Qualität zu sparen.
Schönheit und Schrecken
Für uns ist es auch im Zeitalter der digitalen und sozialen Medien wichtig, durch unser Magazin alle zwei Monate die Zeit anzuhalten, Themen zu vertiefen, Zusammenhänge aufzuzeigen und anschaulich zu machen. Gedrucktes entfaltet eine ganz andere Kraft, etwa in unseren großzügigen Fotostrecken, in denen intensive Bilder wie die des italienischen Duos Valentina Piccini und Jean-Marc Caimi über den verseuchten Fluss Sarno und die Menschen, die an ihm wohnen, den stillen Schrecken in eindringlichen Fotografien dokumentieren (Heft 5.2022). Was Flucht für die Fliehenden wirklich bedeutet, teilt sich in der Fotoreportage von Nicolo Filippo Rosso aus Venezuela anders mit als das in Worten möglich wäre (Heft 4.2022). Staunen lassen einen die faszinierenden Bilder, die für eine Geschichte aus der Unterwasserwelt in unserem Meeres-Heft zusammengetragen wurden (Heft 6.2022). Unsere engagierte Fotoredaktion hat mit ihrer Arbeit auch in diesem Jahr geholfen, die Bedrohung und die Faszination dieser Welt sichtbar zu machen und Menschen zu zeigen, die sie bewahren wollen. Ein Magazin wie das unsrige ist eine der besten Möglichkeiten, diese Geschichten über unsere Welt so zu erzählen, dass sie im Gedächtnis bleiben.
Wir bemühen uns, in unserem Heft und regelmäßig auch in dieser Wochenauslese, auf Probleme hinzuweisen und mögliche Lösungen zu skizzieren. In einem Jahr wie diesem kann man dabei schon manchmal etwas müde werden – oder, ganz im Gegenteil: hellwach. Wie unter einem Brennglas erleben wir gerade ökologische, ökonomische und soziale Kipppunkte auf allen möglichen Gebieten. Und alle eint, dass seit Jahren genau vor diesen immer wieder gewarnt worden ist. Unser Gesundheitssystem steht kurz vor dem Zusammenbruch, bei der Kinderversorgung sind wir womöglich schon einen Schritt weiter. Ausgelöst durch das, was Gesundheitsminister Karl Lauterbach verschämt „Ökonomisierung der Medizin“ nennt.
Wunderglaube und Profit
Man kann auch „Kapitalismus“ dazu sagen, dem Mechanismus maximalen Profitstrebens, bei dem Mensch, Natur, Vernunft oder alles gleichzeitig auf der Strecke bleiben. Die „Märkte“, längst alles andere als frei, regeln angeblich allein, was wir brauchen und alles wird gut, lautet der Wunderglaube. Ich denke mal, es ist wahrscheinlicher, dass am Samstag der Weihnachtsmann doch noch persönlich in Ihren Wohnzimmern auftaucht, als dass dieses Prinzip wirklich zum Wohle aller funktioniert.
Es „lohnt“ sich für renditenorientierte Pharmaunternehmen und Krankenhausgesellschaften schlicht nicht, Patientinnen und Patienten vernünftig zu versorgen oder ausreichend günstige Medizin bereit zu halten, für die Kleinsten schon gar nicht. Es „lohnte“ sich auch für die Deutsche Bahn, die jahrelang auf Börsenfähigkeit getrimmt wurde, kurz- und mittelfristig nicht, ihr Schienennetz zu pflegen und genug Menschen für den eigenen Bedarf auszubilden. Oder gar Werkstätten und genug funktionierende Züge vorzuhalten. Es „lohnt“ sich auch für die mittlerweile börsennotierte Post nicht, die Mitarbeitenden anständig zu bezahlen und deren Arbeit so zu gestalten, dass sie auch zu bewältigen ist. Mit dem Ergebnis, dass heute immer weniger Briefe pünktlich ankommen und erst recht kein Zug. Das System ökologischer und menschlicher Ausbeutung funktioniert einfach nicht auf Dauer, weil das Gesetz der Nachhaltigkeit ihm zuwiderläuft. Irgendwann sind die Ressourcen erschöpft, die Mitarbeitenden weg, die Kundschaft zahlungsunfähig und es gibt nichts mehr, was sich noch irgendwie versilbern lässt. Unternehmen aus der Grundversorgung, die „sich rechnen müssen“, rechnen sich einfach nicht.
Konsequenzen neu denken
Und wie bei der Post, Bahn oder im Gesundheitssystem die warnenden Stimmen seit Jahrzehnten zu vernehmen waren, reden sich viele kluge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie viele weitere Expertinnen und Experten seit langem den Mund fusselig, dass unser Wirtschafts- und Konsumsystem auf Sicht die Erde ruiniert, die Artenvielfalt zerstört und Menschen in Hunger und Flucht treibt, weil es genau diese Zerstörung belohnt. Noch nie haben Öl- und Gaskonzerne mehr Geld verdient als in diesem Krisenjahr. Allein Saudi-Arabiens Aramco machte in einem einzigen Quartal 47,2 Milliarden Euro. Reingewinn. Dafür lag der Ausstoß an Treibhausgasen weltweit auch noch nie so hoch wie 2022.
Vielleicht müssen wir nach Jahrzehnten der Warnungen und vor allem mit Blick auf das aktuell so sichtbare Versagen der „Ökonomisierung“ die Konsequenzen neu denken. Vielleicht sollten wir Klimakrise und Verlust der Biodiversität und Lebensräume als Verbrechen behandeln und nicht mehr als etwas, das einfach so geschieht. So könnte die Frage, ob wir den Verursachern in den fossilen Industrien, also jenen, die als Verantwortliche immer noch Milliarden in den Abbau immer neuer Öl-, Gas- und Kohlefelder investieren, nicht eigentlich als „Täter“ mit Rechtsmitteln beikommen müssten, die kommenden Jahre prägen. Anstatt über Weihnachten jene in Beugehaft zu nehmen, die an dieser Situation verzweifeln. Denn wenn man es recht bedenkt, sitzen die eigentlichen kriminellen Vereinigungen in einigen angenehm klimatisierten Vorstandsetagen dieser Welt.
In den Wartezimmern bei Kinderärztinnen, in überfüllten Zügen, auf der vergeblichen Suche nach bezahlbarem Wohnraum – auch das ein wunderbares Exempel für die Dysfunktion unserer „Markt“wirtschaft – kann man gerade erleben, was es heißt, wenn man diesen Gruppen und ihrer Ideologie die Macht und Deutungshoheit wundergläubig überlässt.
Bleiben Sie wach und genießen Sie die Feiertage im Kreise Ihrer Liebsten! Ihre Wochenauslese kommt wieder am 6. Januar.
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Fred Grimm
Redakteur
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