Liebe Leserinnen und Leser,

der Herbst ist da. Er ziert sich noch und tut ein bisschen klimawandelhaft spätsommerlich, aber das ist ein Rückzugsgefecht, und die Schatten auf den Sonnenuhren werden schneller kommen, als uns lieb ist.

Waren schon mal so viele Menschen in den Städten mit dem Fahrrad unterwegs wie in diesem verflossenen oder verfließenden Sommer? „Wir lassen das noch mal Paroli laufen“, wie es der Fußballer Horst Hrubesch einst so unnachahmlich formulierte. Als der motorisierte Verkehr coronabedingt fast zum Erliegen kam und selbst die E-Scooter über Nacht verschwunden waren, konnte man entspannter durch die Straßen radeln als je zuvor. Ach, es könnte so schön sein…

Aber dann waren plötzlich alle Autos wieder da, samt dem üblichen Gedrängel und Gerangel. Überholen ohne Sicherheitsabstand, zugeparkte Radwege, Abgase, alles wie gehabt. Aber auch die Fahrradknäuel an der Ampel, weil alle versuchen, von der Pole Position aus die Straßenüberquerung in Rekordzeit zu absolvieren. Die Tour de France ist nichts dagegen. Den Fahrradhandel freut’s, die Infrastruktur ist inzwischen aber leider nicht besser geworden.

Für Hamburg plant Anjes Tjarks, der grüne Senator des neuen Ressorts für Verkehr und Mobilitätswende immerhin einiges: mehr Radwege, Fahrradstraßen, Ausbau der sogenannten Velorouten, und im Herbst sollen Pop-up-Fahrradstreifen Einzug halten. Mal sehen, ob die Zweiradoffensive irgendwann auch meinen diesbezüglich benachteiligten Stadtteil erreicht. Eine schnieke Website der Stadt suggeriert schon, dass man hier ganz locker durchradeln kann und „viele tolle Fotomotive“ findet. Mit der Wirklichkeit hat das (noch?) nicht ganz so viel zu tun.

Staunend konnte man allerdings in letzter Zeit beobachten, wie in der Nachbarschaft immer mehr der eigentlich sakrosankten Pkw-Parkplätze weichen mussten: Ausweitung der Gastronomiezone. Die optisch eher ungünstigen rot-weißen Absperrgitter werden verschämt mit einem Sichtschutz aus Stroh kaschiert, und fertig ist der Beachclub. Ach, seufzt die Freiluftparkerin mit leisem Neid, wenn so eine Parkplatzumwidmung doch auch zugusten von Fahrradbügeln möglich wäre, und das nicht nur saisonal!

Bevor man das seit Jahren klaglos vor sich hin rostende gute Stück aber irgendwo abstellt, und sei es an einem Verkehrsschild, heißt es erst mal: hinein ins Verkehrsgetümmel, und da fallen mir derzeit meine radelnden Mitmenschen häufig auf die Nerven, indem sie rechts überholen, sprich: auf dem Gehweg. Eine Strichliste habe ich nicht geführt, bin jedoch sicher, dass ich das noch nie so oft erlebt habe wie in diesem Jahr. Ohne akustische Vorwarnung, dafür mit viel Tempo und wenig Abstand. Klassisches Radrowdytum, wie es die Boulevardpresse gern anprangert.

Und hier noch eine weitere empirisch nicht abgesicherte Schätzung: Ungefähr neunzig Prozent dieser rasenden Rechtsüberholer (und -überholerinnen, die sind weniger zahlreich und nicht ganz so schnell) tragen einen Helm. Fahren die so, obwohl oder weil sie einen Kopfschutz tragen? Wohl eher Letzteres. Die Wissenschaft nennt dieses Phänomen „Risikokompensation“. Die Sorge um die eigene Birne wird durch riskantes Fahrverhalten nivelliert. (Wer einen Helm trägt, wird übrigens gern auch von Autos in geringerem Abstand überholt. Das ist sogar durch Daten belegt.)  

Liebe Mitradlerinnen und Mitradler, Behelmte und Unbehelmte: Habt Ihr in Drachenblut gebadet, oder warum überholt Ihr nicht nur dauernd rechts, sondern fahrt bei Rot rüber, tragt Kopfhörer, schaut beim Fahren aufs Smartphone oder telefoniert, zeigt nicht an, dass Ihr abbiegen wollt und ignoriert alle anderen? Stimmt schon, es ist eng und ein schnelles Vorankommen schwierig, aber wird es besser, wenn man ständig im Kampfmodus unterwegs ist? Bitte abrüsten und ein paar Gänge zurückschalten!

Unterschrift

Kerstin Eitner
Redakteurin