Liebe Leserinnen und Leser,

wie Sie sehen, bin ich nicht Kerstin Eitner. Die hochgeschätzte Kollegin genießt ein paar freie Tage. In der Vergangenheit ist die Wochenauslese in solchen Momenten einfach ausgefallen. Schade eigentlich, dachten wir uns, und haben beschlossen, dass Sie bei derlei Gelegenheit nun jeweils eine andere Kollegin oder ein anderer Kollege begrüßen darf.

Den Anfang mache ich. Für Mitte Juli sind politische Betrachtungen eine eher undankbare Zeit. Das Sommerloch lässt sich in den Redaktionen oft nur mit niedlichen Tiergeschichten oder bunten Rätselseiten stopfen. Dieses Jahr fühlt es sich aber ganz und gar nicht nach notdürftig gefüllten Seiten an. Anfang der Woche etwa endete der große EU-Sondergipfel zum EU-Haushalt und zum Corona-Wiederaufbau – für die Teilnehmenden wurde aus einem Wochenende ein verlängertes, so intensiv feilschten, pokerten, blufften sie. Kein Wunder, ging es doch um gigantische 1,8 Billionen Euro. Doch im Gerangel der Gipfelstürmer um Rechtsstaatlichkeit und um die Finanzierung der Coronahilfen ging unter, worum es bei diesem Marathontreffen eigentlich hätte gehen sollen und müssen: eine ökologische Modernisierung und den Masterplan für den Klimaschutz. Der blieb am Ende bloß Randnotiz.

Zwar sollen dreißig Prozent der 1,8 Billionen Euro in den kommenden sieben Jahren in den Klimaschutz fließen – und auch die anderen siebzig Prozent sollen den Pariser Klimazielen dienen – doch einen handfesten Kriterienkatalog für die klimaschutzorientierte Vergabe der Mittel gibt es nicht. Und reicht das Geld überhaupt? Die Denkfabrik Agora Energiewende hatte vor kurzem ausgerechnet: 2,4 Billionen Euro – 2400 Milliarden – müssten eigentlich in Gebäude, den Verkehr, Strom und in die Industrie investiert werden, wollte die EU ernsthaft ihre Klimaziele erreichen.

Könnte es also passieren, dass ausgerechnet die USA beim Thema Klimaschutz demnächst an Europa vorbeiziehen? Vergangene Woche verkündete Trumps demokratischer Herausforderer Joe Biden, mit ihm als Präsident würden die USA schon bis 2035 klimaneutral, 15 Jahre früher als Europa. Dafür möchte er sage und schreibe zwei Billionen Dollar (also gut 1,7 Billionen Euro) in den nächsten vier Jahren ausgeben. Unter seinen Vorschlägen sind die üblichen, etwa der Ausbau erneuerbarer Energien. Ungewöhnlich ist aber die Idee, ein „Civilian Climate Corps“ aufzubauen, also eine Art Armee von Menschen, die beim Aufbau klimaneutraler Infrastruktur und der Renaturierung von Ökosystemen mit anpacken sollen. Bravo, mag man da über den Atlantik rufen – und hoffen, dass Bidens Green New Deal kein bloßes Wahlkampfgetöse bleibt.

Übrigens, schon Franklin D. Roosevelt hatte als elementaren Bestandteil seines New Deal zur Bekämpfung der Great Depression im Jahr 1933 ein „Civilian Conservation Corps“ ins Leben gerufen – um die „kostbaren natürlichen Ressourcen“ zu bewahren. Damals hatte er vorhergesagt, dass das Korps durch seine Arbeit „den gegenwärtigen und zukünftigen Generationen Dividenden zahlen wird“.

Dass es bei dem Programm auch und hauptsächlich um den wirtschaftlichen Wiederaufstieg der Vereinigten Staaten ging, ist für die heutige Debatte besonders interessant, wurden doch jahrzehntelang Naturschutz und ökonomischer Nutzen als Gegenspieler betrachtet. Wie eng aber beide zusammenhängen, hat vor kurzem ein Team aus über hundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen gezeigt. Ihr Report „Protecting 30% of the planet for nature“ ist eine Kosten-Nutzen-Analyse des sogenannten 30-bis-30-Ziels. Dabei handelt es sich um das von großen Umweltorganisationen und einigen Staaten vorangetriebene Vorhaben, dreißig Prozent der Land- und Meeresfläche bis 2030 unter Schutz zu stellen. Wie das Forscherteam herausfand, würde sich das finanziell lohnen: Jeder investierte Euro brächte fünf Euro Ertrag. Die Schutzgebiete könnten gut 500 Milliarden Dollar erwirtschaften, zum Beispiel durch umweltfreundlichen Tourismus oder weil bestimmte „Ressourcen“ sich erholen: Je besser sich etwa Fische in Meeresschutzgebieten vermehren, desto mehr gibt es von ihnen – auch dort, wo gefischt werden darf. Experten nennen das den Übertragungs- oder Spillover-Effekt. Und: Naturschutz kann vor Zerstörungen durch extremes Wetter bewahren, indem er die Widerstandsfähigkeit von Ökosystemen steigert. 350 Milliarden Dollar könnte die Welt so einsparen – durch „Ökosystemdienstleistungen“ wie Hochwasserschutz, Erosionsschutz, Küstenschutz.

Ökosystemdienstleistungen. Das Wort hat Konjunktur. Mir sträuben sich automatisch die Nackenhaare, wenn das Vokabular, mit dem Natur- und Umweltschutz begründet wird, der kapitalistischen Verwertungslogik entstammt. Allein schon die Natur einer Kosten-Nutzen-Analyse zu unterziehen, erscheint fragwürdig. Doch man kann sich auch die kapitalistische Logik zu eigen machen, um zu zeigen, dass ebendiese nicht funktioniert. Würden etwa die wahren Umweltkosten der Massentierhaltung – Nitratbelastung, CO2-Ausstoß, Tierleid, Menschenleid – in jedes Kilo Billigfleisch eingerechnet, unser Fleischkonsum läge längst viel niedriger. Mit anderen Worten: Es würde wohl helfen, den Spieß endlich umzudrehen und nicht die gute Sache zu Markte zu tragen, sondern den Markt in den Dienst der guten Sache zu stellen. Umso besser, wenn der Spieß kein Spanferkel dreht, sondern Auberginen und Zucchini. Ich wünsche Ihnen ein sonniges Wochenende!

Unterschrift

Frauke Ladleif
Redakteurin