Die Energiewende ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Der ehemalige Umwelt-, Wirtschafts- und Kanzleramtsminister Peter Altmaier gilt vielen als ihr heimlicher Saboteur. Er selbst sieht sich als ihr Retter – mit einer Prise Selbstkritik. Eine Spurensuche im Lobbyland aus dem Greenpeace Magazin 1.23.

Die „Klima-Charta“ hat er gleich mitgebracht. Elf Seiten, sein großer Wurf zur Lösung der Klimakrise, vorgestellt am 11. September 2020 in Berlin, ein Jahr vor der Bundestagswahl, als Peter Altmaier noch Wirtschaftsminister war. „Klima schützen & Wirtschaft stärken“ steht in Großbuchstaben auf dem Deckblatt, da rin zwanzig konkrete Vorschläge, mit niemandem vorher abgestimmt. „Ich wollte das Thema aus dem Wahlkampf heraushalten“, sagt Altmaier. Stattdessen sollte ein „parteiübergreifender Konsens über die klimapolitischen Handlungsnotwendigkeiten“ hergestellt werden, auch mit der Wirtschaft und „weiten Teilen der Klimabewegung“. Schließlich wüssten wir „seit mehr als drei Jahrzehnten, dass wir mit fort schreitendem Klimawandel einer globalen ökologischen Katastrophe entgegengehen“.

Wie zur Bestätigung zeigt das Thermometer an diesem unverschämt sommerlichen Oktobertag 24 Grad im Schatten. Das neue Normal des Klimawandels. Peter Altmaier sitzt vor einem Café am Kurfürstendamm und fragt nach einer zuckerfreien Cola. Nichts Süßes vor dem Mittagessen bitte. Er trägt ein Hemd mit kurzen Ärmeln, Farbe: hellgrün.

© Jens Gyarmaty/Laif<p>Nach dem Wahlsieg von Rot- Grün-Gelb legte Altmaier 2021 auch sein Bundestagsmandat nieder. Nun sind Jüngere dran, erklärte er</p>
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Nach dem Wahlsieg von Rot- Grün-Gelb legte Altmaier 2021 auch sein Bundestagsmandat nieder. Nun sind Jüngere dran, erklärte er

Mit „ausgerechnet Altmaier!“ sind die Reaktionen auf seinen klimapolitischen Befreiungsschlag noch vorsichtig umschrieben. Für viele ist der CDU-Politiker das Gesicht der gescheiterten Energie wen de, ihr „Bremser“, „Saboteur“ und „Totengräber“. In seinen diversen Regierungsämtern habe er Zeit genug gehabt, die „größte Herausforderung seit dem Wiederaufbau und der Wiedervereinigung“ (Altmaier) entschlossen anzugehen. Kabinettskolleginnen und Parteifreunde reagierten schmallippig, Unternehmer- und Industrieverbände eher gar nicht. Nach zwei, drei Tagen war die „Klima-Charta“ vergessen.

Die Zahlen scheinen das spontane Misstrauen zu bestätigen. Unter Norbert Röttgen, seinem Vorgänger als Umweltminister, waren noch acht Gigawatt Solarstrom im Jahr neu ans Netz gegangen. Peter Altmaier verkündete ein „Tempolimit“ für den Ausbau. Die Zahl sank bis 2014 auf 1,2 Gigawatt. Als er nach vier Jahren als Kanzleramtsminister 2017 das Wirtschaftsressort übernahm, lag die Zuständigkeit für die erneuerbaren Energien wieder bei ihm. In seiner Amtszeit fiel die Gesamtleistung der neu installierten Windenergieanlagen von 6,6 auf 1,7 Gigawatt pro Jahr. Der Strompreis, den er durch seine Politik eigentlich niedrig halten wollte, stieg während seiner Regierungszeit um sechs Cent pro Kilowattstunde auf 32 Cent, so viel wie nirgendwo sonst in Europa. Die Zahl der Beschäftigten in der deutschen Wind- und Solarindustrie ging um 100.000 zurück. Im Mai 2021 wurde das Klimaschutzgesetz von CDU, SPD und CSU vom Bundesverfassungsgericht als untauglich einkassiert.

„Sie müssen das so sehen“, sagt Peter Altmaier. Er habe vorausschauend Milliarden für die Wasserstoffförderung organisiert und die „Kostenexplosion“ bei den Erneuerbaren gestoppt. Ihr Anteil am Strommix lag 2020 mit 47 Prozent mehr als doppelt so hoch wie bei seinem Amtsantritt als Umweltminister. Eigentlich habe er die Energiewende gerettet. Und warum manches nicht ganz so gelungen sei, erklärt er gern. Peter Altmaier kann alles erklären. Aber dazu später.

Windmühlenkämpfe

Das Wort Energiewende, damals noch „Energie-Wende“ geschrieben, tauchte im Jahr 1980 in der öffentlichen Diskussion auf. In dem Papier des gerade gegründeten Freiburger ÖkoInstituts ging es noch nicht um den Klimaschutz, sondern – motiviert von der Anti-AKW-Bewegung – darum, wie Atomenergie, Kohle und Öl in Zukunft ersetzt werden könnten, „sauber und bezahlbar für alle“. Aber bereits 1987 forderte eine überparteiliche Enquetekommission des Bundestags („Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“) eine Senkung der CO2-Emissionen um dreißig Prozent bis 2005 und warb für grünen Strom aus Sonne, Wasser, Wind und Biomasse.

Parteiübergreifend verständigte man sich über den Aufbau einer alternativen Energieinfrastruktur. Am 7. Dezember 1990 erging unter der Regierung Helmut Kohl Europas erstes Ökostromgesetz, das den Netzzugang für umweltfreundliche Energieformen regelte. An einen echten Ersatz für fossile Energieträger oder gar Atomkraftwerke dachten damals nur wenige. 1993 warb die deutsche Energiewirtschaft in einer Plakatkampagne noch vollmundig für die Kernkraft: „Sonne, Wasser oder Wind können auch langfristig nicht mehr als vier Prozent unseres Strombedarfs decken“, stand da. Als Angela Merkel 1994 Umweltministerin wurde, sagte sie den gleichen Satz.

Wir haben die junge Generation, die ,Fridays for Future‘, bodenlos enttäuscht.

Das erste „Erneuerbare-Energien-Gesetz“ der frisch gewählten rotgrünen Koalition entfesselte den Ausbau. Es garantierte den Anbietern eine feste Vergütung über zwanzig Jahre, vor allem für private Solaranbieter mit anfangs fünfzig Cent pro eingespeister Kilowattstunde ein gutes Geschäft, ebenso für Investoren. Auch für unionsnahe Landwirte ergaben sich durch Fotovoltaik, Biogas und Windräder auf ihren Feldern ganz neue Verdienstmöglichkeiten. Finanziert wurde das über eine „EEG-Umlage“, die Stromverbraucher anteilig bezahlen mussten. 2010 lag der Ökostromanteil bereits bei 17 Prozent.

Konzeptionell und administrativ litt die Energiewende von Beginn an unter einem Grundkonflikt. Sie war nie so ambitioniert angelegt, dass die Erneuerbaren einmal die fossilen Energieträger komplett ersetzen sollten. Der dafür notwendige Ausbau des Stromnetzes liegt bis heute so gut wie brach. Stattdessen wurden weiter „moderne“ Kohlekraftwerke gebaut, für die „Versorgungssicherheit“. Im administrativen Wirrwarr der wechselnden Bundesregierungen arbeiteten verschiedene Denkweisen und Interessen munter neben und immer öfter auch gegeneinander.

Für die Förderung von Kohle, Öl und Gas war das Wirtschaftsministerium zuständig, das Umweltressort bis 2013 für Solar und Wind. Um die Gebäudedämmung kümmerte man sich im Bauministerium und um die Energie für die Mobilität der Verkehrsminister. Stefan Krug, der in der Ära Merkel jahrelang das Berliner GreenpeaceBüro leitete, beschreibt das ineffiziente Prinzip: „Wir fördern auf der einen Seite das, was wir durch unsere Subventionen dann wieder in Frage stellen.“ Angesichts der Größe der Aufgabe plädieren Wissenschaftlerinnen wie die Ökonomin Claudia Kemfert seit vielen Jahren für ein Energiewendeministerium, in dem alle Fäden zusammenlaufen sollten.

Einflusszonen

Wenn man am Berliner Bahnhof Friedrichstraße den Hinterausgang nimmt, sind es nur wenige Meter zu einem unscheinbaren Bürogebäudekomplex. Vielleicht wird hier irgendwann mal eine Tafel hängen, die daran erinnert, wie bestens orchestrierte Verbände von hier aus die Energie wende ins Stocken brachten. Die Namen der Mietparteien an der Ecke Georgenstraße/Neustädtische Kirchstraße lesen sich wie das Who’s who einer Studie zum Lobbyeinfluss auf die deutsche Energiepolitik: Zukunft Gas, das „Institut der deutschen Wirtschaft“, die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, die BASF-Tochter Wintershall-Dea, der Verband der Chemischen Industrie, VCI. Dass eine Agentur für „Reputation, Kommunikation und Kreativität“ mit im Haus sitzt, passt ins Bild.

Man findet Verbandsnamen vom Türschild und ihre führenden Köpfe hinter beinahe jeder teils millionenschweren Kampagne, in der es darum ging, das Narrativ von der „Kostenexplosion“ durch die Erneuerbaren zu etablieren, die Notwendigkeit von „Quoten“ und „Ausbaukorridoren“ für Sonne- und Windenergie sowie den weiteren Einsatz von Kohle und Gas. „Kommunikationsstrategisch gesehen, haben die das hervorragend gemacht“, erklärt Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. „Die sagten, Klimaschutz ist wichtig, aber das müssen wir anders und bessermachen.“ Im Gespräch mit dem Greenpeace Magazin erzählt er, wie die überraschend hohen Zubauzahlen der Solarindustrie  in Frage. Dazu kamen die Industrie zweige, die möglichst viel billigen Strom verbrauchen wollten. Die haben dann versucht, das Rad zurückzudrehen.“

Wir haben sehr viel Zeit damit verloren, über immer neue künftige Klimaziele zu diskutieren.

2012 setzte der frisch ernannte Umweltminister Peter Altmaier eine Zahl in die Welt, die sämtliche Bremsmanöver gegen die Energiewende auf Jahre hinaus prägen sollte. „Eine Billion Euro“ würde sie bis 2040 „kosten“, wenn nichts passiert. Seine Rechnung vermengte Kosten und Investitionen und ließ die Gegenrechnung, also Ausgaben für den Einkauf fossiler Energieträger und die Milliarden Euro teuren Klimaschäden, außer Acht.

Von Novellierung zu Novellierung verkomplizierte sich das System Energiewende immer mehr. Kam das erste EEG-Gesetz noch mit fünf Seiten aus, blähte ein Ensemble aus eifrigen Ministerialbeamten und teils von der fossilen Energiewirtschaft bezahlten Topjuristen die Bestimmungen bis 2014 auf 228 Seiten auf. Ab diesem Jahr mussten Selbstversorger beim Solarstrom eine Abgabe zahlen. Die Vergütungssätze für Anbieter erneuerbarer Energien sanken parallel zu ihrem Ausbau. Und dann sind da noch die „Reservekapazitäten“, die letztlich die Profite der fossilen Energieunternehmen absichern halfen. Weil Kohlekraftwerke aus technischen Gründen nicht einfach an oder ausgeschaltet werden konnten und mit ihrer „Grundlastleistung“ die Stromnetze verstopfen, müssen zu Spitzenzeiten immer wieder Windkraftanlagen abgetrennt werden. Der von ihnen erzeugte Strom bleibt absurderweise ungenutzt. Allein im Jahr 2021 wurden dafür an Windkraftbetreiber Ausgleichszahlungen in Höhe von 1,3 Milliarden Euro geleistet.

© Jochen Tack/IMAGO<p>Bei Garzweiler lässt RWE gerade Windräder abreißen, um Platz für den Kohleabbau zu schaffen</p>
© Jochen Tack/IMAGO

Bei Garzweiler lässt RWE gerade Windräder abreißen, um Platz für den Kohleabbau zu schaffen

Gleichzeitig ergoss sich ein System aus Vergünstigungen über die „energieintensiven Unternehmen“, zu denen bald auch Schlachthöfe oder Hersteller von Plastiktüten gehörten. 2012 war bereits die Hälfte des industriell genutzten Stroms von der EEG-Umlage befreit. Die Finanzierung der Energiewende lastete immer mehr auf den Schultern der Privathaushalte.

Nicht dass es den Konzernen an Geld gefehlt hätte. Von der Bundesregierung gern herangezogene Studien der Deutschen Energieagentur (Dena), einem bundeseigenen Unternehmen, das die Energiewende beratend voranbringen soll, wurden teilweise von Eon, RWE und einem Großteil der deutschen Gasbranche mit bezahlt.  Wenig verwunderlich pries die 2020 veröffentlichte Dena„ Leitstudie Klimaneutralität“ klimaschädliches Erdgas als Brückenenergie zur Wasserstoffwirtschaft der Zukunft und warb weiter für Wärme aus Gasheizungen („bis 2045“). Inzwischen will die Dena solche Sponsoring-Modelle nicht mehr zulassen.

Dena-Chef Andreas Kuhlmann wirkte im Beirat von „Zukunft Gas“ mit, einer Lobbyorganisation mit dem Ziel, „Erdgas als klimaschonenden Energieträger in der Öffentlichkeit zu platzieren“. Altmaiers parlamentarischer Staatssekretär Thomas Bareiß war ebenfalls Mitglied des Beirats – und agierte gleichzeitig als Aufsichtsratsvorsitzender der Dena. Der badenwürttembergische Christdemokrat geißelte die Energiewende, für deren Umsetzung er eigentlich mit zuständig war, schon mal als „Monstrum“. Klimaschützer erinnerten ihn an die „Untergangspropheten des Mittelalters“. Überhaupt sei der „Klimaschutz“ für „manche“ nur eine „Chiffre im Kampf gegen das System“. Aus Thomas Bareiß könne „noch ein guter Bundeskanzler werden“, verkündete Peter Altmaier im Sommer 2021 bei einem Wahlkampfauftritt für seinen Parteifreund in der Festhalle von Ebingen.

Christina Deckwirth vom Verein Lobbycontrol befasst sich intensiv mit dem Einfluss von Lobbyistinnen und Lobbyisten auf die Klimapolitik. Lobbyarbeit gehöre zur Demokratie, sagt sie, am Austausch von Interessenvertretungen mit  Regierungshandelnden sei im Prinzip nichts auszusetzen. Problematisch sei das Ungleichgewicht: Klimaschutzbewegung und Klimaforschung etwa hätten nicht annähernd den gleichen Einfluss auf die Gestaltung der Energiewende wie die fossilen Energieunternehmen. Eine Lobby„ Fußspur“, die verbindlich dokumentiert, mit wem Beamte und Ministeriale bei einem Gesetzgebungsverfahren wie oft sprechen und welche Papiere ihren Vorlagen zugrunde liegen, gibt es bis heute nicht.

Verteilung

47%

betrug der Anteil von Windenergie und Sonne, von Wasserkraft und Biogas am Strom zuletzt, doppelt so viel wie 2013

Im Energiebereich wirbelt die Drehtür mit den Seitenwechslern zwischen Politik und Wirtschaft so heftig, dass man mit dem Luftzug auch Windkraft anlagen betreiben könnte. In diesem System ist es ganz normal, dass mit dem CDU-Mitglied Stefan Kaufmann der ehemalige Wasserstoff beauftragte der Bundesregierung übergangslos in die gleiche Funktion zu Thyssen Krupp wechselt, wo er mit dem ehemaligen SPD-Wirtschaftsminister und heutigen Multilobbyisten Sigmar Gabriel über die Verwendung der staatlichen Milliardenförderung für ihren neuen Geldgeber nachdenken kann.

Für Peter Altmaier, Gabriels Amtsnachfolger und seit 1. Mai 2022 offiziell Pensionär, wäre das nichts. Lobbyist zu werden, komme für ihn nicht in Frage, der Selbstbestimmung wegen, erklärte er mehr als einmal. Stattdessen reist er als gern gebuchter Redner durch die Welt, spricht auf einem vom Öl- und Gasunternehmen Petronas Energy Canada gesponserten Event in Calgary oder bei einer Tagung im schönen Vaduz in Liechtenstein zur „Zeitenwende in der Finanzwirtschaft“. Die Veranstaltung wurde „von den wichtigsten Finanzverbänden des Landes sowie Partnern aus der Privatwirtschaft“ unterstützt. Wie sich das für einen ehemaligen Beamten gehört, hat Altmaier die erforderlichen Genehmigungen für seine Aktivitäten von der Bundesregierung eingeholt.

Ende 2020 veröffentlichte sein Wirtschaftsministerium ein 1,2 Millionen Euro teures Gutachten, das ein Jahr lang in der Schublade gelegen hatte. Es war eines von insgesamt fünf, die unter anderem hatten feststellen sollen, ob mit Blick auf die klimapolitischen Ziele Dörfer für den Braunkohletagebau Garzweiler abgerissen werden müssten. Das Papier war das Einzige, das diese Notwendigkeit bestritt und das Einzige, das nicht unmittelbar nach der Fertigstellung publiziert worden war. Im Juli 2020 beschloss der Bundestag das Kohleausstiegsgesetz, das den Untergang der Dörfer festschrieb, ohne dass Bundestag und Öffentlichkeit von dem sorgfältig durchgerechneten Gutachten erfahren hätten. Ein „Büroversehen“, gab Altmaiers Staatssekretär Andreas Feicht, zuständig für Energiepolitik, zu Protokoll. Feicht verließ das Ministerium zum 1. Dezember 2021. Drei Wochen später berief die RheinEnergie AG in Köln das CDUMitglied zu ihrem neuen Vorstand. Das Unternehmen betreibt unter anderem das Braunkohlekraftwerk Köln-Merkenich. Die Kohle dafür kommt aus dem Tagebau Garzweiler.

Wir schaffen das. Nicht

Ein paar Tage nach dem Gespräch in Berlin. Peter Altmaier ist in sein Haus ins Saarland gefahren, wo die andere Hälfte seiner umfangreichen Büchersammlung auf ihn wartet. Gerade hat er das Herbstlaub zusammengekehrt, draußen ist es noch immer sommerlich warm. Er trägt ein rosafarbenes Poloshirt und sitzt in seinem Büro unterm Dach. Unten, im Erdgeschoss, liegt seine Abendlektüre. „Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr“, eine 484-Seiten-Studie des Stuttgarter Historikers Wolfram Pyta. Es geht um Macht und Inszenierung, um Ästhetik und Kult, um das Irrationale als politischen Faktor.

Ist es irrational, sich vor der Klimakatastrophe zu ängstigen? Dem leidenschaftlichen Europäer, der als einer der Ersten dafür kämpfte, in Deutschland geborenen Kindern ausländischer Eltern die Staatsbürgerschaft zu geben und der 2015/16 mit viel Herzblut die Bewältigung der sogenannten Flüchtlingskrise organisierte, sind Emotionen nicht fremd. Wie sehr ihn das Thema Klima auch innerlich bewegt, bleibt aber auch nach mehreren Stunden Gespräch nicht ganz klar. Die große Geste, einen „Wir schaffen das“Moment im Angesicht der Klimakrise hat es mit ihm nie gegeben.

Peter Altmaier gilt als ein Mann, der gern mit beinahe allen redet und das auch noch in fünf Sprachen. Mit Protestierenden von Greenpeace ebenso wie mit Anti-Windkraft-Aktivistinnen oder, das allerdings wesentlich öfter, mit dem Topmanagement der Chemieoder Energiewirtschaft. Als „Fridays for Future“ 2019 vor seinem Ministerium demonstrierte, wollte er auch dort das Wort ergreifen, wurde aber von der Bühne gebuht. Ein Jahr später war seine „Klima-Charta“ fertig. „Einer der Gründe, warum ich dieses Papier vorgelegt hatte, war ja die Erkenntnis, dass wir die junge Generation, die ‚Fridays for Future‘, bodenlos enttäuscht haben. Auch wenn ich selber keine Kinder habe, sind das für mich auch meine Kinder, weil das die Generation ist, die nach uns kommt. Diese Enttäuschung hätte man unbedingt vermeiden müssen.“

Der Sohn eines Bergmanns und einer Krankenschwester hat die klassische Aufstiegsgeschichte erlebt. Der erste Abiturient in der Familie, Jurastudium, EUBeamter in Brüssel, ab 1994 Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Wohlstand ist für ihn keine abstrakte Größe, sondern Lebensleistung – eine ganz persönliche, aber auch die seiner Generation und der seiner Eltern. Zum Wohlstandsbegriff gehört auch das technologische Erbe, eine Art Wissenskultur, die sich eben auch in einem technisch beeindruckenden neuen Kohlekraftwerk oder einem Verbrennermotor manifestieren kann. Und das soll alles auf einmal nichts mehr wert sein?

Wandel

83 %

der Deutschen unterstützen den Ausbau der erneuerbaren Energien, nur zwölf Prozent halten das eher nicht für wichtig

Die Versöhnung von Industrie und Klimaschutz bildet den Kern von Peter Altmaiers „Klima--Charta“. Sie ist gleichzeitig ein Dokument verpasster Chancen. 2013 hatte Altmaier mit Blick auf wissenschaftliche Berichte zum Klimawandel gefordert: „Es gibt keine Ausrede mehr. Die Politik muss handeln.“ In seinem Papier fragt er sieben Jahre später: „Wie kann es sein, dass das Anliegen des Klimaschutzes scheinbar immer wieder anderen Notwendigkeiten untergeordnet wird?“

Die viel zu niedrige CO2-Bepreisung, der späte Kohleausstieg, der wirkungslose europäische Emissionshandel, die von Bayern und Nordrhein-Westfalen durchgesetzten Abstandsregeln für die Windkraftanlagen, die mangelnde Energieeffizienz, die Wärmedämmung, der Verkehr – die Liste der Versäumnisse ist lang, auch wenn der geübte Machttechniker Altmaier für jeden einzelnen Punkt des Scheiterns eine Begründung finden kann. Dass er etwa den zukünftigen Stromverbrauch im Land jahrelang viel zu niedrig angesetzt hatte und dadurch den möglichen Anteil der Erneuerbaren bis 2030 zu hoch, erklärt er mit einem Studienwirrwarr. Die falschen Prognosen korrigierte er erst wenige Wochen vor der letzten Wahl.

„Ich bin mit meiner Bilanz natürlich nicht völlig zufrieden, sonst hätte ich ja nicht dieses Papier gemacht“, sagt er. Und so steckt seine „Klima-Charta“ voller guter Ideen, die es in der MerkelZeit nie in die Gesetzgebung geschafft haben: Ein fester Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts zum Beispiel, der jährlich in den Klimaschutz fließen soll. „Wir müssen endlich sagen, was uns der Schutz von Klima und Wirtschaft wert ist. Bei Bildung und Forschung sowie Verteidigung haben wir das ja auch!“ Auch sinnvoll: ein „Scoreboard“, auf dem die Fortschritte von Organisationen und Unternehmen beim Erreichen der Klimaziele öffentlich sichtbar sein sollen.

Wir müssen endlich sagen, was uns der Schutz von Klima und Wirtschaft wert ist. Bei Bildung und Forschung sowie Verteidigung haben wir das ja auch getan!

Aber noch immer beschreibt Altmaier Wohlstand und Klimaschutz hartnäckig als zu versöhnende Gegensätze, ganz so als würde nicht die Klimakrise selbst heute bereits den Wohlstand gefährden. „Belastungen der Wirtschaft durch Klimaschutz“ müssten vom Staat ausgeglichen werden, fordert er, dabei liegen im Klimaschutz doch auch große Chancen für die Zukunft der Unternehmen. Sein „Vorstoß von 2020“ sei „immer noch aktuell“, schreibt Peter Altmaier später in einer Mail.

Einer, der bei Regierungssitzungen nahe mit dabei war und Peter Altmaier als „Arbeitstier“ schätzt, beschreibt ihn als „wandelnden Kompromiss“. Ihm sei es nicht in erster Linie um die Durchsetzung seiner politischen Positionen gegangen. In den unterschiedlichen Koalitionskonstellationen zwischen Schwarz-Rot und Schwarz-Gelb blieb in der Energiepolitik oft nur der allerkleinste gemeinsame Nenner. Die Frage ist, wie viel Kompromiss eine Jahrhundertaufgabe wie die Klimakrise politisch überhaupt erlaubt.

Wenige Tage vor seinem plötzlichen Tod im Oktober 2010 hielt Herrmann Scheer in Berlin seinen letzten Vortrag. Der Sozialdemokrat galt als einer der klügsten Köpfe hinter der Energiewende, global geachtet, unter Rot-Grün einer der Architekten des ersten EEG. Scheer wandte sich gegen eine „Verschwiemelung“ der Debatte, ganz so, „als sei Energie gleich Energie“. Dabei lägen zwischen Erneuerbaren, die er lieber „bleibende Energien“ nannte, und den Fossilen Welten. Die einen stünden für ein dezentrales Konzept mit breiter Eigentumsstruktur,

das Energieerzeugung und verbrauch zusammenrückt. Die anderen für Zentralismus, Monopolismus und die Kapitalmacht in den Händen weniger Profiteure. Sein Fazit: Das fossile und das erneuerbare System könnten auf lange Sicht nicht nebeneinander existieren. „Sie würden ja auch nicht schmutziges, giftiges Wasser zusammen mit sauberem Wasser auf einem gemeinsamen Markt verkaufen und das schmutzige subventionieren, weil es sonst keine Chance hätte.“ Herrmann Scheer, den Mann, der viele Jahre gemeinsam mit ihm im Bundestag saß, habe er leider nie näher kennengelernt, sagt Peter Altmaier.

Nachtrag: Ende Oktober wurden die Ergebnisse der jüngsten Ausschreibung für den Ausbau von Solarund Windkraftanlagen in Deutschland veröffentlicht. Für zwei Drittel der vorgesehenen Ausbauleistung für Solarenergie und die Hälfte bei der Windkraft fanden sich keine Bewerbungen, der Ausbau der Erneuerbaren bleibt also weiter deutlich unter Plan. Ebenfalls im Oktober hat RWE damit begonnen, am Rande des Tagebaus Garzweiler eine Windkraftanlage abzureißen. Das Unternehmen braucht den Platz. Bis 2023 werden dort acht Windräder verschwinden, damit deutsche Kraft werke weiter mit frischer Braunkohle versorgt werden können. Erste Prognosen deuten darauf hin, dass die Treibhausgasemissionen in Deutschland 2022 wieder ansteigen werden. Das Erreichen der Klimaziele für 2030 scheint nach heutigem Stand unmöglich. Ein Energiewendeministerium ist weiterhin nicht in Sicht.

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