Vanda Witoto streichelt den Fluss. Schließt die Augen. Bedankt sich murmelnd beim Wasser. Dann taucht sie unter. „Der Fluss gibt mir Kraft.“ Als sie lachend wieder auftaucht, ist ihr nicht anzusehen, dass sie seit Wochen kaum eine freie Minute findet. Dass sie eigentlich schon vor zwei Tagen hätte hier sein sollen, aber das Flugzeug wegen Starkregen nicht in São Gabriel da Cachoeira landen konnte. Nun ist Witoto verspätet im Dorf Irari angekommen, ihr enger Zeitplan geht nicht mehr auf. Das Boot, auf dem sie sich eine Mitfahrgelegenheit organisiert hatte, legt in Kürze termingemäß ab, aber ihre Rede, für die sie angereist ist, kann sie jetzt erst nach Sonnenuntergang halten. Die 34-Jährige kandidiert im dreieinhalb Millionen Menschen zählenden Bundesstaat Amazonas für das brasilianische Parlament. In Irari will sie sich Abgesandten von achtzig indigenen Gemeinden vorstellen, die hier gerade eine Versammlung abhalten. Witoto taucht erneut unter, kommt wieder hoch, wirft ihr hüftlanges Haar zurück und stapft zum
Ufer. Sie wird eine Lösung finden.

GANZ BEI SICH
Vanda Witoto wuchs direkt an einem Fluss wie dem Içana auf. Ihr Vater war Fischer, sie genießt das Eintauchen in ihre Erinnerungen

GANZ BEI SICH
Vanda Witoto wuchs direkt an einem Fluss wie dem Içana auf. Ihr Vater war Fischer, sie genießt das Eintauchen in ihre Erinnerungen

Bekannt wurde die Kandidatin 2021, während der Pandemie. TV-Sender in ganz Brasilien zeigten, wie Witoto als erste Geimpfte des Bundesstaats Amazonas in traditioneller Kleidung und Gesichtsbemalung die Rechte ihres Volkes ein forderte. Die brasilianische Regierung hatte im Impfplan nur Indigene berücksichtigt, die in offiziell anerkannten Schutzgebieten leben – was für weniger als die Hälfte von ihnen gilt. Die Krankenschwester organisierte in ihrem Viertel Parque das Tribos ein improvisiertes Hospital, Sauerstoffspenden und eine Basis-Gesundheitsversorgung. Jetzt, mehr als ein Jahr später, umarmen sie hier, im 850 Kilometer entfernten São Gabriel, Menschen spontan auf der Straße und bedanken sich. Witoto erwidert die Umarmungen. „Wie gut, dass die Menschen mich schon kennen, bevor der Wahlkampf beginnt!“ Als indigene Kandidatin anzutreten ist eine gewaltige Aufgabe in einem riesigen Bundesstaat wie Amazonas, wo der Transport nur zu Wasser und in der Luft funktioniert. Ganz besonders für ihre kleine Ökopartei, die Rede Sustentabilidade, die 2015 von der Ex-Umweltministerin und Präsidentschaftskandidatin Marina Silva gegründet wurde.

Doch Witotos Chancen für die Wahl im Oktober stehen nicht schlecht. Unter Präsident Bolsonaro wurde im ersten Halbjahr 2022 mehr kostbarer Regenwald zerstört als je zuvor seit Beginn der Messungen. Die Landgier der Soja- und Minenindustrie trifft vor allem die Gebiete der Ureinwohner. In Amazonas leben die meisten der rund 900.000 Indigenen Brasiliens, viele ohne zuverlässige Internetverbindung und Zugang zu sozialen Netzwerken. Umso wichtiger ist es für Vanda Witoto, persönlich vor Ort für sich zu werben. Noch hat ihr Krankenhaus sie nicht freigestellt. Ihre Vorstellungstouren absolviert sie an Wochenenden und Feiertagen. Dabei besucht sie vor allem die besonders abgelegenen Gebiete. Wenn ab Mitte August der offizielle Wahlkampf beginnt, werden ihr dort die Gegner aus der Agrarlobby mit voller Finanzkraft in die Quere kommen. Manchmal kaufen deren Kandidaten alle Plätze im Flugzeug auf, damit kein Konkurrent mehr mitfliegen kann. Fast immer versuchen sie, in den Dörfern das jeweilige Oberhaupt, den Chief, dafür zu bezahlen, dass er Stimmen für sie einsammelt. Sie verschenken Motoren für Fischerboote und volle Benzinkanister, finanzieren Fußballturniere und versprechen Jobs, um dann bis zur nächsten Wahl nicht wieder aufzutauchen.

SCHWIERIGE ÜBERFAHRT
Wer in den entlegenen Gebieten von Amazonas Wahlkampf macht, braucht viel Geduld. Manchmal geht es nur zu Wasser voran, oft gar nicht

SCHWIERIGE ÜBERFAHRT
Wer in den entlegenen Gebieten von Amazonas Wahlkampf macht, braucht viel Geduld. Manchmal geht es nur zu Wasser voran, oft gar nicht

Die Baniwa in Irari, zwei Bootsstunden von São Gabriel entfernt, haben Witoto zu ihrer Versammlung eingeladen, bei der alle Führungspersönlichkeiten der Umgebung anwesend sind. Sie treffen sich, um einen Kodex für öffentliche Anhörungen zu verabschieden. Laut Gesetz müssen indigene Völker konsultiert werden, wenn auf ihren Gebieten Straßen oder Wasserkraftwerke geplant werden. Die Anhörungen dazu finden oft ohne Dolmetscher in weit entfernten Städten statt. Inzwischen legen immer mehr Völker ihre eigenen Regeln fest und schicken sie an die Regierung, damit klar ist, wenn ihre Rechte missachtet werden.

Irari liegt am Fluss Içana, der wegen der vielen Stromschnellen schwer befahrbar ist – und so die Indigenen vor manchen Eindringlingen schützt. Siebzehn Familien leben hier in bunt gestrichenen Häusern aus rohen Holzplanken auf sandigen Lichtungen zwischen Bananenstauden und schlanken Açaí-Palmen. Strom gibt es nur, wenn abends für ein paar Stunden der Generator läuft, Internet gar nicht. Die Besucher haben ihre Hängematten unter Blechdächern befestigt, die vor plötzlichen Regenfällen schützen. Auf der dicken Planke am Fluss waschen die Frauen Wäsche und erfrischen sich im klaren Wasser – wie vorhin Vanda Witoto. Sie wuchs ganz ähnlich auf, als Tochter eines Fischers, der seine sieben Kinder mühsam mit Fischfang und dem Anbau von Maniok und Bananen durchbrachte.

TRADITION MACHT MODE
Mit viel Energie hat Witoto auch noch ein kleines Unternehmen aufgezogen, das Frauen aus ihrem Viertel Arbeit gibt

TRADITION MACHT MODE
Mit viel Energie hat Witoto auch noch ein kleines Unternehmen aufgezogen, das Frauen aus ihrem Viertel Arbeit gibt

In der Versammlungshütte sitzen etwa hundert Baniwa, mehr Männer als Frauen, auf Holzbänken und lauschen konzentriert Dario, einem der Organisatoren des Treffens. Sie tragen kurze Haare zu Jeans und T-Shirt und tagen seit dem frühen Morgen. Mittags gibt es für alle Reis, Bohnen, Fleisch und Xibé, eine Art Suppe aus fermentiertem Maniok. Verpflegung und Treffen werden von Norwegens Botschaft gesponsert. Gleichzeitig hält der norwegische Staat ein Drittel der Aktien der Bergbaugesellschaft Norsk Hydro, die im Nachbarbundesstaat Pará für die Kontamination von Flüssen und Bleivergiftungen bei Bewohnern verantwortlich gemacht wird. Einer von vielen amazonischen Gegensätzen. Die Baniwa brauchen die Unterstützung von außen, um sich gegen Eingriffe von außen besser zur Wehr setzen zu können. Witoto trägt jetzt ihren Federschmuck, ihre Kette aus Samenschalen und ein Gewand aus ihrer Kollektion indigener Mode, Ateliê Derequine. Die Sonne ist im Içana versunken, als Gastgeber Dario sie nach vorn bittet. Hundert Augenpaare sind auf die junge Frau gerichtet.

Zuerst begrüßt Witoto die Anwesenden in ihrer Sprache Murui Uitoto, ehrt die Ahnen, die Frauen, die Jugend. Dann erzählt sie von ihrer Herkunft aus dem Dorf Colônia am Rio Solimões, im Grenzgebiet zu Peru und Kolumbien, wo ihre Vorfahren im Kautschukboom versklavt und ermordet wurden, ihre Großeltern die eigene Sprache nur noch im Geheimen sprachen und sie und ihre sechs Geschwister ihre indigene Herkunft komplett verdrängten. Ihr Gesicht verhärtet sich, wie zum Schutz vor der Erinnerung.

<p>BRASILIENS BUNTER AUFSTAND<br />
Angeführt von Sônia Guajajara, vom Magazin Time zu den hundert wichtigsten Personen 2022 gekürt, hat sich ein Indigenen-Netzwerk gegen Bolsonaros Politik formiert</p>

BRASILIENS BUNTER AUFSTAND
Angeführt von Sônia Guajajara, vom Magazin Time zu den hundert wichtigsten Personen 2022 gekürt, hat sich ein Indigenen-Netzwerk gegen Bolsonaros Politik formiert

Als Sechzehnjährige kam Vanda nach Manaus, wo sie gegen Kost, Logis und Taschengeld sieben Tage in der Woche als Kindermädchen arbeitete. Vom Dienstherrn bedrängt und von der Chefin wegen ihrer indigenen Gesichtszüge als „Pitbullfratze“ gedemütigt, sagte die junge Frau jahrelang zu allem Ja und Amen – und absolvierte nach Dienstschluss eine Ausbildung zur Krankenschwester. Die Baniwa hören gespannt zu, manche nicken, erkennen sich in den Erzählungen wieder. Draußen riecht es nach dem Küchenfeuer, Frösche quaken, dazu singen die Vögel der Nacht.

„Die ganze Welt redet vom Klima und vom Umweltschutz, aber wer redet von uns, den indigenen Völkern?“, ruft Witoto. „Um den Wald zu schützen, müssen wir zu erst unsere Völker schützen, die den Wald pflegen! Wir brauchen mehr indigene Schulen, eine gut ausgestattete dezentrale Gesundheitsversorgung und vor allem neue Führungspersönlichkeiten, die nachrücken, wenn die Alten wegsterben.“ Allgemeine Zustimmung. Eine Frau bittet ums Wort und erzählt, sichtlich bewegt, wie sie ihre kranken Eltern per Boot nach Manaus ins Krankenhaus bringen musste, weil es nur dort Hilfe gab. Eine Lehrerin berichtet, dass es in der Schule an den einfachsten Lehrmaterialien fehlt. „Die aktuelle Politik schwächt die indigenen Territorien“, sagt Witoto, „die Aktionen dieser Regierung zielen darauf ab, uns auszulöschen.“ Der ultrarechte Präsident Bolsonaro ließ die indigene Gesundheitsversorgung ebenso kürzen wie die Ausstattung der Indigenenschutzbehörde Funai.

<p>VORNE DABEI<br />
Vanda Witoto bei einer Demonstration – auf dem gelben Schild rechts ist zu lesen: „Der Amazonas bittet um Frieden“</p>

VORNE DABEI
Vanda Witoto bei einer Demonstration – auf dem gelben Schild rechts ist zu lesen: „Der Amazonas bittet um Frieden“

Im Kongress warten Gesetzesvorschläge wie der zur völligen Freigabe des Bergbaus in indigenen Gebieten auf die Verabschiedung. All das könne nur politisch bekämpft werden. „Dafür stelle ich mich zur Verfügung. Aber ich brauche eure Hilfe.“ Für diese Worte erntet sie Beifallsgemurmel. „Wir werden dich unterstützen, unser Wort hast du“, erklärt Dario zum Abschluss des Abends. Witoto strahlt und dankt für das Vertrauen.

In der Geschichte Brasiliens schafften es bislang erst zwei Indigene in den Kongress: Mário Juruna im Jahr 1982 und 2018 Joênia Wapichana, eine versierte Anwältin mit US-Diplom, die in diesem Jahr erneut
antritt. Mit Vanda Witoto und weiteren Indigenen soll im Parlament eine „bancada do cocar“ (sinngemäß: Federschmuck-Lobby) in Opposition zur Mehrheit der Agrar- und Minenlobby gebildet werden. Indigene Politik soll nicht länger von anderen bestimmt, die Aushöhlung der brasilianischen Umweltgesetzgebung rückgängig gemacht werden. „Die indigene Präsenz macht einen riesigen Unterschied, aber wir brauchen viele Abgeordnete, um sichtbar zu werden“, erklärt die Umweltaktivistin Sônia Guajajara von der Indigenen-Vereinigung APIB. Sie kandidiert im Wahlkreis São Paulo und erinnert regelmäßig auf globalen Klimakonferenzen an die Rechte der Ureinwohner.

APPELL AN DIE GEMEINSAME GESCHICHTE
Um für ihre Politik zu werben, besucht Vanda Witoto in Irari eine Versammlung
von einflussreichen Menschen aus den umliegenden Dörfern

APPELL AN DIE GEMEINSAME GESCHICHTE
Um für ihre Politik zu werben, besucht Vanda Witoto in Irari eine Versammlung
von einflussreichen Menschen aus den umliegenden Dörfern

Zu dieser Sichtbarkeit gehört auch, dass sich immer mehr Indigene als solche erkennen. Denn in Jahrhunderten der Verfolgung wurden nicht nur Menschenleben ausgelöscht, sondern auch die kulturelle
Identität der Überlebenden. Witotos Aktivis tinnenleben beginnt mit der Frage eines Studienkollegen: „Warum beantragst du als Indigene eigentlich kein Stipendium?“

<p>EINE RIESENAUFGABE<br />
Der Wahlkreis Amazonas ist rund fünfmal so groß wie Deutschland. Nahe São Gabriel begann Witoto ihren Vorwahlkampf. Seit Präsident Jair Bolsonaro, unterstützt von der Agrar- und Minenlobby, 2019 ins Amt kam, werden in manchen Monaten über 1000 Quadratkilometer Regenwald zerstört, oft in Gebieten der Indigenen. Wer sich für ihre Rechte und die der Natur einsetzt, lebt gefährlich. Jährlich werden Dutzende Aktivistinnen, Aktivisten sowie Medienarbeitende getötet. Zuletzt erregte der Mord am britischen Journalisten Dom Phillips und seinem Begleiter Bruno Pereira Aufsehen, die unweit des Dorfes, in dem Vanda Witoto auftrat, für ihr Buch „How to Save the Amazon“ recherchierten.</p>

EINE RIESENAUFGABE
Der Wahlkreis Amazonas ist rund fünfmal so groß wie Deutschland. Nahe São Gabriel begann Witoto ihren Vorwahlkampf. Seit Präsident Jair Bolsonaro, unterstützt von der Agrar- und Minenlobby, 2019 ins Amt kam, werden in manchen Monaten über 1000 Quadratkilometer Regenwald zerstört, oft in Gebieten der Indigenen. Wer sich für ihre Rechte und die der Natur einsetzt, lebt gefährlich. Jährlich werden Dutzende Aktivistinnen, Aktivisten sowie Medienarbeitende getötet. Zuletzt erregte der Mord am britischen Journalisten Dom Phillips und seinem Begleiter Bruno Pereira Aufsehen, die unweit des Dorfes, in dem Vanda Witoto auftrat, für ihr Buch „How to Save the Amazon“ recherchierten.

Erst da begreift Vanda ihre Herkunft in aller Konsequenz und macht fortan ihrem indigenen Vornamen Derequine, „wilde Ameise“, alle Ehre: Sie verlässt die Pfingstkirche, weil sie dort ihre Gesichtsbemalung nicht tragen darf, fordert als Anführerin mehr Unterstützung für indigene Studierende, zieht in das indigene Stadtviertel Parque das Tribos und gründet neben ihrer Arbeit als Krankenschwester mit anderen Frauen ein Atelier für indigene Mode. Dass ihr nächster Schritt in die Politik führt, scheint nur natürlich.

Unterstützt wird sie dabei auch von ihrem Mann Sidnei dos Santos, einem großen dunkelblonden Monteur aus dem Süden Brasiliens, der gern lächelt und nie die Ruhe verliert. Bei der Hochzeit vor zehn
Jahren dachte er noch, seine Frau wäre asiatischer Herkunft, erzählt er grinsend. Seine Frau zeigt eine brasilianische Vogue, mit ihr auf dem Cover. Das Motto der Sonderausgabe von 2020: Hope – weil die Erhaltung der Regenwälder und der Schutz derjenigen, die in ihnen leben, unsere einzige Hoffnung sei, heißt es im Editorial. „Sie haben mir Zöpfe geflochten und mein Gesicht in Grün und Gold angemalt“, erinnert sich Witoto, „aber das sind nicht die Farben meines Volkes, und wir tragen keine Zöpfe! Ich habe die ganze Nacht gelitten, aber am zweiten Tag der Produktion sagte ich ihnen, dass ich so mein Volk nicht repräsentieren könne.“ Auf dem Titel trägt Witoto nun die traditionelle Bemalung mit Urucum, einem
natürlichen Farbstoff, der aus dem Annattostrauch gewonnen wird. Sie hält die Augen geschlossen, schmiegt ihre Lippen an ein Blatt: „Da habe ich mich nach dem Shooting bei Mutter Natur bedankt.“ Inzwischen steht auch ein Boot für die Rückfahrt bereit. Witoto hat es mit Dario organisiert: Die Baniwa stellen Boot und Fahrer, Witoto übernimmt die Benzinkosten. Aufgeben ist nicht ihr Stil.

Diese Reportage erschien in der Ausgabe 5.22 „Artenvielfalt“. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!

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