Mitten in Deutschland, zwischen Erfurt und Leipzig, zwischen Harz und Hainich, liegt die Hohe Schrecke – eine Hügelkette, bedeckt von jahrhundertealten Buchen und Eichen. Hier steht einer der urwüchsigsten Wälder der Republik. Und fast niemand weiß es. In der Ausgabe 6.19 „Gute Reise“ des Greenpeace Magazins stellen wir drei Geheimtipps für Ostsafaris vor, einen davon können Sie hier lesen.

Die Bäume wachsen auch hier nicht in den Himmel, aber vierzig Meter hoch werden sie allemal. Gerlinde Straka muss den Kopf in den Nacken legen, um nach ganz oben zu blicken, die Buche zu taxieren. Dann schätzt sie: „Etwa 200 Jahre.“ Und murmelt: „Was die wohl erlebt hat?“ Als sie ein Sämling war, so viel ist sicher, schrieb Goethe im nahen Weimar noch an Faust II.

Schilder weisen den Wanderern den Weg

Schilder weisen den Wanderern den Weg

Und mit reichlich hundert Jahren wurde sie Teil eines militärischen Sperrgebiets, das bis 1992 bestand. Die Buche ist eine Überlebende. Wäre der Wald bewirtschaftet worden, wäre sie längst weg, Brennholz. „Sie ist drehwüchsig“, sagt Straka und zeigt auf den Stamm. Tatsächlich windet sich der Baum malerisch zum Licht. „Für die Schreinerei wertlos.“

Gerlinde Straka, sechzig Jahre, silbernes Haar und dezente Brille, arbeitet für die Naturstiftung David. Mit ihren Kollegen betreut die Forstwissenschaftlerin das Naturschutzgroßprojekt „Hohe Schrecke“. Der Höhenzug, dessen Name aus der Mundart kommt und „Hohe Schräge“ bedeutet, liegt mitten in Deutschland. Eingerahmt von Streuobstwiesen und Orten voller Fachwerk, markiert die Hügelkette mit steil abfallenden Tälern den Nordrand des Thüringer Beckens.

Wilde Mirabellen wachsen am Wegesrand

Wilde Mirabellen wachsen am Wegesrand

Gut ein Drittel des 65 Quadratkilometer großen Gebiets soll in Zukunft unbehelligt bleiben, der andere Teil naturnah bewirtschaftet werden. Die drehwüchsige Buche steht am Eingang zum Wiegental, dem urwüchsigsten Teil der Schrecke. Und es kann noch Jahrzehnte dauern, bis sie tot umfällt. Das ist wilder Wald: Die Bäume werden hier geboren und sterben hier – nicht im Sägewerk.

„Huhu, huhu, huhu.“ Dumpf hallt der Ruf der Hohltaube durchs Wiegental. Der Blick bergab in die Tiefe des Waldes ist atemberaubend. Von Strukturreichtum und der engen Verzahnung verschiedener Altersklassen spricht Gerlinde Straka, von Höhendifferenzierung, Lichtschächten und Naturverjüngung. Und was die Bayerin, die seit 1993 in Thüringen wurzelt, damit sagen will, ist: Dieser Wald, durch dessen Kronendach jetzt die Sonne sickert, ist einer der schönsten in Deutschland.

Überrest der 1350 zerstörten Rabensburg

Überrest der 1350 zerstörten Rabensburg

Etwas oberhalb des Weges liegt Totholz. Glibberig zieht sich ein weißer Schleimpilz über den einst mächtigen Stamm, der nun langsam zerspant. Braune Konsolenpilze wachsen aus seinen Flanken. „Eiche“, meint Gerlinde Straka und schätzt die Liegedauer auf 15 bis 20 Jahre. Da seien nun sicher auch Käfer drin. „Die würde ich aber äußerst ungern stören.“

Denn nicht die Wildkatze, gelegentlich hindurchwandernde Wölfe oder Luchse, nicht der seltene Hirschkäfer, die 14 Fledermaus- oder mehr als dreißig gefährdeten Vogelarten sind die Stars der Schrecke. Die Stars sind nur wenige Millimeter groß, verbergen sich unter Rinde und sind zum Teil so selten, dass sie nicht einmal einen deutschen Namen haben: weit über 500 Arten von Totholzkäfern, darunter etliche vom Aussterben bedrohte. Und zwanzig sind „Urwald-Reliktarten“.

In eine Buche ist das Jahr 1947 geritzt. Damals war der Wald Militärgebiet

Auf heitere Wanderer hofft der Wirt am Start und Ziel des Rabenswaldwegs in Garnbach

In eine Buche ist das Jahr 1947 geritzt. Damals war der Wald Militärgebiet

Auf heitere Wanderer hofft der Wirt am Start und Ziel des Rabenswaldwegs in Garnbach

Zum Beispiel der Knochenglanzkäfer. Mehr als hundert Jahre lang galt Trox perisii in Thüringen als ausgestorben, in der Hohen Schrecke wurde er 2010 wiederentdeckt. Das allein hätte für eine kleine Sensation gereicht. Wichtiger aber ist, was der Fund des sechs Millimeter großen metallen schimmernden Käfers bedeutet: Seit der letzten Eiszeit steht hier ununterbrochen Wald – und zwar solcher, der den Ansprüchen von Trox perisii genügt. Der Winzling ist ein Zeitreisender aus jener Epoche, als Europa von Urwäldern bedeckt war. Heute sind die Bedingungen für sein Überleben fast unerfüllbar.

„Zuerst“, beginnt Gerlinde Straka die lange Liste des Unwahrscheinlichen, „muss eine Buche über hundert Jahre alt werden. Sonst ist ihr Holz zu hart für den Schwarzspecht.“

Habe der Specht seine Höhle gehämmert, müssten nacheinander sowohl eine Hohltaube als auch ein Waldkauz dort einziehen. Damit nicht genug, muss auch ein Säugetier wie der Siebenschläfer die Höhle bewohnt haben. Erst dann findet Trox perisii die richtige Mischung aus Federn, Haaren und Knochen vor.

Ist ihm der Weg dorthin zu weit, ist er verloren. Denn er kann maximal 500 Meter fliegen. „Das ist eine so hochspezialisierte Art, das ist Wahnsinn, so etwas zu finden“, sagt Straka. „Wir sind hier in einem Top-Gebiet.“ Zum Vergleich: Im Nationalpark Hainich, bekannt für uralten Wald, sind vier Reliktarten nachgewiesen.

Während Gerlinde Straka erzählt, raschelt im Laub eine Maus, Spechte hämmern. Ansonsten ist es still. Echte Urwälder, in denen sich keine Spur von Zivilisation findet, gibt es in Deutschland nicht mehr.

Gerlinde Straka und Katja Morgenthaler schauen sich einen Pilz genauer an

Gerlinde Straka und Katja Morgenthaler schauen sich einen Pilz genauer an

Immerhin wurde die Hohe Schrecke vor ihrer Zeit als Sperrgebiet jahrhundertelang von einem Adelshaus naturnah bewirtschaftet. Ein Überbleibsel dieser Zeit ist ein Mauerrest der Rabensburg südöstlich des Wiegentals. Der Festungswall des längst zerstörten Baus ist gut erkennbar. „Achtung!“, steht auf einem Schild. „Gefahr durch herabstürzende Äste und umfallende Bäume!“ Wie zur Betonung dieser Warnung lehnt es im Geäst einer umgekippten Birke. Sie muss das Schild erst kürzlich umgerissen haben. Ihre Blätter sind noch grün.

Hinter dem Wall wartet Dagmar Dittmer. Sie hat Picknick mitgebracht: Kaffee, Würste und Brötchen auf einem karierten Tuch. Dittmer, Ende fünfzig, Kurzhaarschnitt, fröhlich und zupackend, ist Vorsitzende des Vereins Hohe Schrecke und war bis vor Kurzem Bürgermeisterin des Städtchens Wiehe zu Füßen der Burg.

Konsolenpilze wachsen auf Totholz

Konsolenpilze wachsen auf Totholz

Als die Schrecke noch Sperrgebiet war, ging sie heimlich hindurch zum Tanz nach Hauteroda, weil es kürzer war. Heute kommt sie des Waldes wegen und bleibt möglichst lange. „Sie sind hier kilometerlang allein“, sagt sie. „Das ist wie Medizin.“ Gemeinsam mit den anderen Bürgermeistern rund um den Höhenzug hat die CDU-Frau sich nach der Wende für den Waldschutz eingesetzt. Die Kommunen wollten ihr Naturkapital in sanften Tourismus ummünzen und holten sich Rat bei Umweltverbänden. Als das Land 2006 einen Teil der Schrecke inklusive Wiegental verkaufte, war das zunächst ein Rückschlag. Doch kurz darauf gewannen die Gemeinden mit Unterstützung der Stiftung einen Bundeswettbewerb. Noch bis 2023 wird das Naturschutzgroßprojekt gefördert. „Das ist unsere Chance“, sagt Dittmer.

Blick auf die Hohe Schrecke in Thüringen

Blick auf die Hohe Schrecke in Thüringen

Kommunen, die Naturschutz einfordern, Bürgermeister, die sich mit Ökologen zusammentun – es ist eine ungewöhnliche Geschichte. Und manchmal kompliziert. Wenn Gerlinde Straka auf die Karte der Hohen Schrecke schaut, sieht sie einen Flickenteppich von Besitzern. Der Stiftung gehört nur junger Wald – das einzige Gebiet, das gerodet war. Um alten Wald zu bewahren und „Trittsteine“ von Wildnis zu Wildnis zu schaffen, kaufen Straka und ihre Kollegen „Altholzinseln“ aus der Nutzung heraus oder erwerben einzelne Biotopbäume bis zum Zerfall. Das Wichtigste aber: Der Käufer des Wiegentals hat einem Nutzungsverzicht „auf Ewigkeit“ zugestimmt. Jetzt ist der Wald am Zug.

Die anderen Geheimtipps, Wüste in Brandenburg und Moor in Vorpommern, finden Sie in der Ausgabe des Greenpeace Magazins 6.19 „Gute Reise“. In unserem Schwerpunkt geht es darum, wie wir Sehnsuchtsorte erreichen, ohne das Klima aufzuheizen. Um die Welt zu entdecken und trotzdem zu bewahren, brauchen wir den Paradieswechsel. Den finden unsere Autorinnen und Autoren im deutschen Osten, bei der Reise im Nachtzug oder gleich hinter der Endhaltestelle der S-Bahn. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!

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