480 Millionen Jahre, so lange leben auf der Erde schon Insekten. Sie sind ein unersetzbarer Teil im großen Bild des planetaren Ökosystems: Sie fressen, werden gefressen und tragen zur Bestäubung von Pflanzen bei. Rund 75 Prozent unserer Nutzpflanzen sind auf Insektenbestäubung angewiesen. Die kleinen Krabbler erzeugen weltweit Nahrungsmittel im Wert von mindestens 153 Milliarden Euro. Nach Rindern und Schweinen ist die Honigbiene in Deutschland das ökonomisch drittwichtigste Nutztier – bis vor einem Jahr wussten das aber nur die wenigsten Menschen.

Doch dann kam die Krefeld-Studie. Ehrenamtliche Insektenforscher aus dem Rheinland sammelten wissenschaftliche Daten zwischen 1989 und 2015 an über sechzig Standorten – und fanden dabei Erschreckendes heraus: Die Zahl der Fluginsekten war um 75 Prozent gesunken. Diese Nachricht sorgte 2017 weltweit für Aufsehen. Was hat sie zu bedeuten?

„Es ist ein Alarmzeichen, wenn die größte Tiergruppe der Erde weltweit im Sturzflug begriffen ist, unabhängig davon, ob der Verlust der einen oder anderen Art für uns unmittelbar spürbar ist oder nicht“, schreibt Andreas Segerer, Schmetterlingsexperte an der Zoologischen Staatssammlung München und Präsident der Entomologischen Gesellschaft München. Ihn wie so viele andere Insektenforscher überraschten die Ergebnisse der Krefelder Studie vor einem Jahr nicht – doch sie ermöglichten es ihnen, ihre Warnungen einer weltweiten Öffentlichkeit nahezubringen. Nicht nur davor, dass von den geschätzt sechs Millionen unentdeckten Insektenarten die meisten verschwunden sein werden, bevor sie überhaupt entdeckt wurden. Oder davor, dass das Verstummen der Bienen das Verschwinden der Vögel nach sich zieht und der gefürchtete „stumme Frühling“ Einzug hält. Nein, Andreas Segerer geht es darum, die ganz große Katastrophe abzuwenden: den ökologischen „Blackout“.

„So wie unsere heutige Zivilisation nur dann reibungslos funktionieren kann, wenn technische Schlüsseldienstleistungen – etwa die permanente und zuverlässige Versorgung mit Energie – bereitgestellt werden, läuft es auch in der Natur: Die Gemeinschaft der Lebewesen bildet ein dichtes, funktionelles Netzwerk, in dem alle Organismen zusammenwirken, direkt oder indirekt voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind. Zieht jemand an einer Schlüsselstelle ,den Stecker', erlebt die Natur ihren Blackout – und da wir Teil dieser Natur sind, sind wir mit dabei.“

In seinem neuen, gemeinsam mit Eva Rosenkranz verfassten Buch „Das große Insektensterben“ will Andreas Segerer aufklären, um das Schlimmste zu verhindern. Darum hat er alle notwendigen Fakten und Hintergründe über das Insektensterben zusammengetragen: Das Buch „Das große Insektensterben“ ist ein dichtes Dossier über den Verlust der Artenvielfalt und dessen Auswirkungen auf Natur, Mensch und Gesellschaft. Segerers Bilanz ist bitter: „Niemand kennt die Kipppunkte der diversen Ökosysteme; aber die bisherigen fünf großen Massenauslöschungen der Erdgeschichte lehren uns, dass der Zusammenbruch schnell erfolgen kann. Und es gibt keinen Planeten B, auf den wir auswandern könnten.“

Der Zoologe beschreibt aber nicht nur Probleme, im Gegenteil: Er erklärt in kurzen, verständlichen Einschüben das Einmaleins der Insektenforschung, schreibt über das Insektensammeln, wie man Artensterben misst, wie es in der „Hexenküche der Schädlingsbekämpfung“ aussieht und gibt einen Überblick über seine Lieblings-Insekten: Die Tsetse-Fliege, die gefährliche Urheberin des Zebrastreifens. Den bisher unbestimmten „Puschel“-Schmetterling, den er einst im tropischen Regenwald Perus entdeckte. Und das Fensterfleckchen, einen südamerikanischen Nachtfalter, der sich bis ins kleinste Detail als von Pilzen zerfressenes Blatt tarnt, um unbemerkt leben zu können. Segerer will die Insektenneugier seiner LeserInnen wecken und sie für seinen Lösungsansatz begeistern: Im Zentrum seiner „Agenda“ steht die internationale Vernetzung für den Artenschutz und eine konsequente Agrarwende, die das Insektensterben mit all seinen Konsequenzen abbremsen könnte.

© picture alliance / dpa ThemendienstBuchautorin Eva Rosenkranz plädiert für wildere Gärten, damit auch dieser Schmetterling (Aphantopus hyperantus) sein Blättchen finden kann
© picture alliance / dpa Themendienst

Buchautorin Eva Rosenkranz plädiert für wildere Gärten, damit auch dieser Schmetterling (Aphantopus hyperantus) sein Blättchen finden kann

Seine Co-Autorin, die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Eva Rosenkranz führt im zweiten Teil des Buches aus, welche Initiativen und Leuchtturmprojekte sich dem „großen Sterben“ entgegenstellen. In den letzten drei Kapiteln gibt Eva Rosenkranz den LeserInnen Gelegenheit, das Wissen um das Insektensterben in praktische Gegenmaßnahmen umzumünzen: Welche Initiativen gibt es, um das Insektensterben zu stoppen und was kann der einzelne Mensch tun, um die Artenvielfalt zu erhalten. Der Einfluß der Hobbygärtner sei größer, als man gemeinhin denke, so Rosenkranz: 930.000 Hektar umfassen die Privatgärten in Deutschland, alle deutschen Naturschutzgebiete liegen bei rund 1.382.000 Hektar. Ein Umdenken auf individueller Ebene könnte das Insektensterben also durchaus bremsen, so Rosenkranz.

Und so lässt die Autorin die LeserInnen wissen, welche Blühpflanzen, Büsche und Bäume besonders häufig von Insekten und Wildbienen angeflogen werden, wie man ihnen ein langfristiges Zuhause schafft und was einen insektenfreundlichen Garten ausmacht: Es sind „Orte, wo das Lassen, die Überraschung, das Unkontrollierbare zuhause sind. Wenn jeder Gärtner nur einige solcher Orte in seinem Garten sich selbst überlässt, sie nicht der gärtnerischen Kontrollillusion unterwirft, wird er Überraschungen erleben, wird staunen, wer plötzlich alles bei ihm einzieht.“ Ein paar wilde Ecken für die Welt von morgen, so nennt Rosenkranz das.

Die Autorin zeigt in diesen letzten Kapiteln, wo in der Landwirtschaft, im Naturschutz, in jedem Garten und auf jedem Balkon Veränderungen beginnen können. Und, wo sich Menschen zusammentun, um dem Artensterben etwas entgegenzusetzen. An diesem Punkt setzt der Epilog der beiden AutorInnen auf: Das Wissen über das Insektensterben sei nicht genug, so Segerer und Rosenkranz, es brauche das Wissen über Gegenmaßnahmen und letztlich die Kraft, die guten Ideen auch in die Tat umzusetzen. Ihr Schlusswort, das Mahatma Ghandi zugeschrieben wird, lautet denn auch folgerichtig: „Be the change you want to see.“

Andreas H. Segerer und Eva Rosenkranz: „Das große Insektensterben“, oekom Verlag, München 2018, 20 Euro.

Mehr zum Thema Artenvielfalt lesen Sie in der Ausgabe des Greenpeace Magazins 5.18 „Wahrer Reichtum“. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!

Mehr zum Thema

MEHR BEITRÄGE