Am Sonntag haben die Grünen bei der Landtagswahl in Bayern abgeräumt und auch bei der anstehenden Hessen-Wahl sind die Hoffnungen groß. Vergangene Woche warnten Experten im Weltklimabericht davor, den Klimaschutz zu vernachlässigen – und regten eine breite gesellschaftliche Debatte über notwendige Veränderungen an. Ein paar Tage zuvor hatten Zehntausende im Hambacher Wald für Naturschutz und gegen Kohle demonstriert. Grüne Themen mobilisieren die Massen und drängen in Deutschland verstärkt auf die politische Agenda. Aber wie sieht das auf EU-Ebene aus und was heißt das für die anstehenden Europawahlen 2019?

Wir treffen Sven Giegold, Sprecher der Grünen im Europaparlament, im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestags in Berlin, wo an diesem Tag junge Menschen aus ganz Europa auf dem „Young European Lab“ Ideen für ein zukunftsfähiges Leben in der Europäischen Gemeinschaft diskutieren. Eingeladen hat an diesem Oktober-Wochenende vor der Bayernwahl die Europagruppe der Grünen im Europaparlament und die bündnisgrüne Bundestagsfraktion. Wir sprechen mit Giegold am Rande der Konferenz in einer Kaffeepause. Nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses in Bayern baten wir ihn nachträglich um eine aktuelle Einschätzung.

Herr Giegold, in Bayern haben die Grünen knapp 18 Prozent erreicht und sind zweitstärkste Kraft nach der CSU – die SPD liegt mit unter 10 Prozent weit abgeschlagen auf Platz 5. Wie erklären Sie sich das gute Ergebnis Ihrer Partei?

Wir Grünen sind stark, weil wir mit einer klaren Haltung von „Herz statt Hetze” in die Wahlen gegangen sind: Positiv, Pro-Europa, für eine humane und vernünftige Flüchtlingspolitik, für Innovation durch Klimaschutz. Verloren haben diejenigen, die es allen recht machen wollen. Das wird auch stilbildend für unsere Europawahlkampagne.

Rechnerisch wäre nun in Bayern eine Koalition mit der CSU mehrheitsfähig, auch wenn die Freien Wähler als der wahrscheinlichere Koalitionspartner gehandelt werden. Was raten Sie dem grünen Spitzenduo in Bayern: Wie weit sollten sie gehen, um eine Regierungsbeteiligung möglich zu machen?

Grundsätzlich denke ich, dass die Grünen in Bayern keine Ratschläge brauchen. Aber allgemein gesagt: Ideale und Regieren schließen sich nicht aus. Im Gegenteil. Wenn man in eine Regierung geht, ist das Entscheidende, dass die Kompromisse, die man dafür macht, nicht die eigenen Ziele verändern. Kompromisse sind kein Verrat. Das ist etwas, das auch die Umweltbewegung lernen muss: Kompromisse sind notwendig, um Veränderungen zu erreichen. Gefährlich wird es dann, wenn man aus Machtgründen die eigenen Ziele aus den Augen verliert. Solange die Ziele ökologisch konsequent bleiben, muss man nicht diejenigen beschimpfen, die Kompromisse machen.

Im Hambacher Wald hat die Umweltbewegung jüngst einen vorläufigen Sieg davongetragen. Wie wurde der Protest auf europäischer Ebene wahrgenommen?

Auf dieses Thema wurde ich im Europaparlament sehr häufig angesprochen, da viele sich wundern, dass das reiche Deutschland gleichzeitig der größte Produzent von Braunkohle ist. Viele europäische Kollegen haben sich aber vor allem gefreut, dass sich in dieser Frage endlich etwas tut. Auf den Protest im Hambacher Wald habe ich durchweg positives Feedback bekommen. Generell sollten wir viel mehr betonen: Den Rodungsstopp haben wir dem Europarecht zu verdanken. Denn nach der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie sind die im Hambacher Wald lebenden Bechsteinfledermaus und das Mausohr prioritäre Arten, und deswegen ist es erst zu diesem Stopp gekommen.

Das EU-Parlament hat sich kürzlich auf schärfere CO2-Grenzwerte für Neuwagen geeinigt. Die deutsche Bundesregierung vertreten durch Bundesumweltministerin Schulze hat im Ministerrat eher gebremst. Wie positioniert sich Deutschland zu Umweltfragen auf EU-Ebene?  

Die Große Koalition sieht sich offensichtlich als Vertretung kurzsichtiger Interessen der deutschen Automobilwirtschaft. Allerdings ist diese Lobbyarbeit der Bundesregierung nicht nur klimaschädlich, sondern gefährdet auch den Industriestandort Deutschland. Denn wenn Deutschland weiterhin hauptsächlich auf die bisherigen Produktionsanlagen setzt, werden die Zukunftstechnologien eben woanders entwickelt.

Wie wird Deutschland in der EU wahrgenommen?

Im EU-Parlament herrscht der Eindruck vor: Die Deutschen reden immer nur dann vom Klimaschutz, wenn es ihnen in die eigenen kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen passt. Und das hat schon Tradition: Das europäische Umweltrecht ist durchweg strenger, als das nationale Recht in Deutschland war. Wenn Deutschland mal eine Vorreiterrolle beim Umweltschutz hatte, liegt das länger zurück. Das war dann in den 1970er und 1980er Jahren. Seitdem hat die EU in vielen Bereichen immer einen höheren Umweltstandard, der oft gegen Deutschland erstritten werden musste. Und das obwohl das Europaparlament oftmals eine Mehrheit rechts der Mitte hat.

In den letzten Jahren konnten in vielen EU-Mitgliedstaaten rechte und populistische Parteien Wahlerfolge feiern. Gibt es wichtige Umweltschutzmaßnahmen, die man in der EU vor der Neuzusammensetzung des Parlaments noch schnell beschließen sollte?

Solche Befürchtungen, dass Rechte und Europagegner bald Umweltentscheidungen im EU-Parlament blockieren könnten, habe ich nicht. Panikmache bringt auch nichts. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung in Europa rechtes, europafeindliches Gedankengut ablehnt. Allerdings gibt es schon viele Menschen und Parteien, die Rechtspopulisten oder -extremisten nachlaufen. Die Gefahr entsteht dann, wenn die demokratischen Kräfte den Populisten nachlaufen. Bei den Grünen sagen wir ganz klar: Wir stehen für ein starkes Europa mit Demokratie, Rechtstaatlichkeit, gleichen Rechten für alle, Nachhaltigkeit – nicht für eine Zeit von Renationalisierung und Abschottung.

Welche bisherigen Regelungen für Klima und Umwelt sind auf die EU-Politik zurückzuführen?

In praktisch allen Produkten auf dem EU-Binnenmarkt stecken EU-Regeln. Europa ist in allen zentralen Naturschutz- und Umweltfragen federführend, nicht mehr die Nationalstaaten. Bei der Agrarwende und Biodiversität, bei der Verminderungsstrategie für Plastik, beim Tierschutz, bei der Chemikalienregulierung. Das ist auch richtig so. Allerdings ist vielen Menschen nicht bewusst, was für eine wichtige Rolle das Europaparlament dabei spielt. Unser Einfluss ist stetig gewachsen. Die Einigung auf CO2-Grenzwerte für Neuwagen ist ein gutes Beispiel. Hier hat das Europaparlament 40 Prozent weniger gefordert – während Deutschland mit der EU-Kommission für 30 Prozent Reduktion plädiert hatte. Die Einigung im Rat der Mitgliedsländer liegt nun bei 35 Prozent. Wir werden hart verhandeln, um noch mehr herauszuholen. Denn wir wissen: auch die 40 Prozent sind noch zu wenig, um das 1,5 Grad-Ziel von Paris zu erreichen. 

Welche wichtigen Entscheidungen im Umwelt- und Klimaschutz stehen derzeit an?

Die größte kurzfristige Entscheidung ist die Frage, wie es weitergeht mit der gemeinsamen Agrarpolitik. Das Europaparlament und die Mitgliedsstaaten sollten dafür sorgen, dass die Fördergelder nur noch an Landwirte gehen, die tatsächlich sozialökologisch wirtschaften. Wir müssen der Massentierhaltung und der Lehrräumung unserer Landschaften Grenzen setzen. In den Fokus rückt aber jetzt auch die Chemieindustrie, die nach Studien des Umweltbundesamtes systematisch die europäischen Regeln zur Zulassung von Chemikalien gebrochen hat. Wir werden daher die Forderung zum Wahlkampfthema machen, dass die europäische Chemikalienrichtlinie konsequent umgesetzt werden muss.

In unserer aktuellen Ausgabe „Bloß nicht hinwerfen“ geht es darum, was jeder und jede Einzelne tun kann, um die Umwelt und das Klima zu schützen. Was würden Sie Menschen raten, die selbst aktiv werden wollen?

Zuallererst sind ökologische Entscheidungen politische Entscheidungen. Jemand, der oder die sich für den Umweltschutz einsetzen möchte, sollte sich organisieren, bei Umweltverbänden oder in Parteien. Denn es sind politische Entscheidungen, die auch den Rahmen für Alltagsentscheidungen setzen. Wer von Hartz IV leben muss, kann es sich nicht leisten, alles im Biomarkt einzukaufen. Wer sich keine Wohnung in der Innenstadt leisten kann und außerhalb lebt, ist häufig gezwungen den Pkw zu nutzen, weil der ÖPNV nicht ausreichend ausgebaut ist. Natürlich sollte jeder und jede versuchen, so gut wie möglich ökologisch zu leben. Das beginnt mit der Menge an tierischen Produkten, die man isst, geht über das Fahrradfahren bis hin zur Nutzung von Ökostrom und weniger Konsumprodukte insgesamt. Diese Appelle an den Einzelnen sind selbstverständlich. Diese Appelle helfen aber nicht weiter, wenn es beispielsweise um die Auseinandersetzung mit der Chemie- oder der Automobilindustrie geht. Diese Branchen haben immer das größere Lobbybudget und da ist die Politik gefragt. Deshalb brauchen wir eine starke Zivilgesellschaft und starke politische Parteien, die sich nicht von kurzfristigen Wirtschaftsinteressen leiten lassen.