Über das Insektensterben kann man jammern, man kann lamentieren und daran verzweifeln – oder selbst etwas tun. Die 15 Menschen, die an diesem Samstag im August bei strahlend blauem Himmel auf einer Wiese im Nordosten von Hamburg stehen, haben sich entschieden. Über ihnen kreist ein Mäusebussard-Pärchen und vor ihnen breitet sich eine weite, leicht gewellte Fläche aus, die von einer dichten, trockenen Grasdecke überzogen ist, lediglich unterbrochen von kleinen Teichen und einigen Erlen- und Birkenhainen. Ein Paradies für Schmetterlinge.

Aurorafalter, Kohlweißlinge, Hauhechelbläulinge und Ochsenfalter, sie alle lieben die sandigen Böden hier in der Osdorfer Altmark, die Trockenwiesen sind ihr zuhause. Die dünenartige Landschaft, durch die sich ein kleiner Bach schlängelt, lockt zudem Rehe, Hasen und Füchse an, auch Amphibien wie Erdkröten und Wasserfrösche fühlen sich hier wohl. „Allein an den Schlehen leben 110 Insektenarten, die da Nahrung finden, Eier ablegen und dort leben“, erklärt Andreas Lampe, Mitarbeiter des Naturschutzbundes (Nabu), der die heutige Aktion begleitet. Er lugt unter seinem Strohhut hervor und lässt den Blick über das Naturschutzgebiet schweifen. Es ist ein guter Ort, nicht nur, aber auch für Schmetterlinge. Damit das so bleibt, wollen 15 Freiwilligen heute hier die Ärmel hochkrempeln und einen Teil des hüfthohen Grases mähen. Die wilden Wiesen zu stutzen, das nützt den Schmetterlingen.

Aber beginnen wir von vorn: Hamburg soll eine Stadt der Schmetterlinge werden – dieses Ziel hat der Nabu 2017 ausgerufen. Vor einem Jahr legte er gemeinsam mit der Stadtverwaltung und anderen Partnern den Grundstein für mehr Falterschutz. Denn auch in Hamburg ist der Bestand der Schmetterlinge in den letzten 50 bis 100 Jahren erheblich zurückgegangen. Ein Großteil der Tagfalterarten steht auf der Roten Liste und gilt als gefährdet, etwa die Hälfte der vor 100 Jahren in Hamburg vorkommenden Arten ist verschwunden.

Andreas Lampe (rechts), Leiter der Nabu-Aktion zum Schutz der Schmetterlinge, zeigt einem Teilnehmer aus Hamburg, wie die „Mahd“ funktioniert

Andreas Lampe (rechts), Leiter der Nabu-Aktion zum Schutz der Schmetterlinge, zeigt einem Teilnehmer aus Hamburg, wie die „Mahd“ funktioniert

Das Projekt ist nach dem Aurora-Falter benannt. Der Schmetterling ist ein Frühlingsbote, im Frühjahr kann er bis heute überall in der Stadt beobachtet werden (charakteristisch sind die weißen Flügel, die beim Männchen mit einem orange leuchtenden Punkt versehen sind; die Flügelunterseite ist grün-weiß gefleckt). Der Aurora-Falter ist in Hamburg zwar nicht gefährdet, die Bestände werden jedoch kleiner. Er gilt als ein guter Indikator für den Zustand der biologischen Vielfalt in den dichter besiedelten Stadtbereichen. Denn wie alle Schmetterlinge ist auch er sehr sensibel und reagiert schnell auf Umweltveränderungen. In der Stadt gibt es noch relativ viel Biodiversität im Gegensatz zu weiten Teil der „vermaisten“ und „verrapsten“ Agrarlandschaft. Im urbanen Raum machen den Insekten vor allem vier Dinge zu schaffen: das Verschwinden von freien Flächen, der Einsatz von Pestiziden, und dass die wenigen freie Flächen überdüngt und zu oft gemäht werden.

Zugegeben, es den Schmetterlingen recht zu machen, ist nicht einfach: Die Tiere haben einen komplexen Lebenszyklus. Ei, Raupe, Puppe und erwachsene Tiere haben jeweils unterschiedliche und oft sehr spezifische Ansprüche an ihre Umwelt. Helfen kann man ihnen nur, indem man die Natur auch in der Stadt vielfältig hält, mal eine Wiese länger stehen lässt, dichte Hecken kultiviert, nicht jeden Tümpel trockenlegt und Platz schafft für ein bisschen Wildnis im Garten, auf dem Balkon oder im Park.

Die Schmetterlingsschutz-Maßnahme des Nabu heißt an diesem August-Samstag: Sensen schwingen. Lars Panzer, ein ehrenamtlicher Nabu-Mitarbeiter, der bei der Durchführung der heutigen Aktion hilft, erklärt der Gruppe, wie man mit der Handsense umgeht. Bis auf zwei Frauen sind heute fast nur Männer gekommen. Viele sind Anwohner und haben schon als Kinder an der Düpenau, dem kleinen Bach, der sich durch die Trockenwiese schlängelt, gespielt. Einige engagieren sich schon seit Jahren für den Erhalt des Naturschutzgebietes, andere sind extra aus anderen Stadtteilen angereist. Eine Gruppe sechs Geflüchteter ist auch gekommen, sie wollen sich für den Umweltschutz engagieren, mal raus aus der Stadt, in der Natur arbeiten und dabei ihr Deutsch erproben, so erzählt es einer von Ihnen. Eine bunte, motivierte Truppe, die heute dem Wildwuchs des Naturschutzgebietes zu Leibe rückt.

Für die Wiesenbewohner ist das in jedem Fall ein starker Eingriff: Gerade die Raupen und Puppen der Falter sind den Sensenblättern schutzlos ausgeliefert. Und die bereits geschlüpften Falter finden auf einer frisch gemähten Wiese zunächt keine Nahrung. „Bei jedem Mähvorgang wird mindestens 1/10 bis 1/3 der auf einer Wiese lebenden Tiere getötet“, erklärt Frank Röbbelen, Gründer der Fachgruppe Entomologie Nabu Hamburg. Warum dann überhaupt mähen? Ganz ohne die sogenannte „Mahd“ werden die Wiesen zur Brache und die Falter verlieren auf lange Sicht ihr Zuhause. Das Mähen ist also für die Wiesen bewohnenden Insekten eine unverzichtbare Voraussetzung für ihre Existenz und gleichzeitig eine elementare Bedrohung. Die Lösung des Dilemmas: so spät wie möglich mähen, so dass weniger Eier, Raupen und Puppen betroffen sind. Und auf die Teilmahd setzen: Wenn ungemähte Ausweichflächen zur Verfügung stehen, erklärt Frank Röbbelen, können sich die betroffenen Tiere während der Mahd dorthin flüchten und die Schäden hielten sich in Grenzen.

„Was wir hier machen kommt natürlich nicht nur den Schmetterlingen zugute“, erklärt der ausgebildete Forstwirt Andreas Lampe, „das ganze Naturschutzgebiet profitiert von diesen Maßnahmen.“ Nicht der Erhalt einer Art, sondern die Pflege ganzer Lebensräume müsse im Mittelpunkt des Engagements stehen. Während Rechen, Sensen und Arbeitshandschuhe verteilt werden, begrüßen die Teilnehmer freudig vorbeifliegende Schmetterlinge, einige können sie sogar bestimmen (ein Kohlweißling, ein Kleiner Feuerfalter). Die meisten der Anwesenden sind jedoch nicht nur wegen der Tagfalter hier, es geht ihnen um mehr: Sie wollen mithelfen, die Artenvielfalt zu erhalten – und einen schönen Sommertag in der Natur verbringen.

Obwohl hier mit viel Energie gearbeitet wird, braucht es mehr als eine Gruppe Freiwillige, um eine Stadt schmetterlingsfreundlich zu machen. „Der Nabu allein kann den Bestand der Schmetterlinge in Hamburg nicht retten“, erklärt auch Tobias Hinsch, Geschäftsführer des Nabu Hamburg. „Dank des fachlichen Know-hows unserer Insektenexperten können wir jedoch Firmen und Verwaltungen beraten und mithelfen, schmetterlingsgerechte Mahdkonzepte für Betriebsgelände oder Grünflächen zu erstellen.“ Seit dem Start des Projekte 2017 konnten die Naturschützer zwei Unternehmen für ihr Vorhaben gewinnen, darunter auch der Trinkwasserversorgunger „Hamburg Wasser“ und die „Hamburger Friedhöfe“, die unter anderem die größten Parkfriedhöfe Ohlsdorf und Öjendorf betreiben. Die Flächen dieser Unternehmen werden nun insektenfreundlich zu unterschiedlichen Zeiten gemäht. Das verursacht den Firmen keinen betrieblichen Mehraufwand und lässt den Nabu hoffen, sich mit kleinen Schritten der Vision der „Stadt der Schmetterlinge“ zu nähern.

Nach knapp fünf Stunden Arbeit hat sich das Naturschutzgebiet sichtbar verändert: Ein Teil des hohen Grases ist abgemäht, am Rand des Feldes liegen hohe Berge von Mahdgut. Alle Naturschützer sind verschwitzt, die letzten Wasserflaschen werden geleert, Aufbruchstimmung macht sich breit. „Das Blatt, auf dem die Raupe lebt, ist für sie eine Welt, ein unendlicher Raum“, schrieb der Philosoph Ludwig Feuerbach Mitte des 19. Jahrhunderts, und jetzt, wo die Freiwilligen alle Ecken des Naturschutzgebietes durchkämmt haben, fühlt sich der Falter-Kosmos wohl auch für sie ein bisschen mehr nach Unendlichkeit an. Zumindest machen alle einen ziemlich erschöpften Eindruck. Viel Arbeit für so ein paar Insekten, könnte man denken. Aber wenn zum Abschied ein paar Hauhechelbläulinge über die Wiese tänzeln, hat sich die Mühe vielleicht doch gelohnt.

Wenn Sie mehr über Artenschutz und Biodiversität erfahren möchten, werfen Sie doch ein Blick in die Ausgabe des Greenpeace Magazins 5.18 „Artenvielfalt“. Ein Jahr nachdem Krefelder Forscher weltweit Schlagzeilen mit dem Nachweis gemacht haben, dass die Zahl der Fluginsekten dramatisch sinkt, gehen wir der Frage nach, was „Wahrer Reichtum“ ist – und wie wir ihn erhalten können.

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