Zwölf Kilometer hin und zwölf Kilometer zurück. Das ist Riccardos täglicher Arbeitsweg, den er mit dem Fahrrad bewältigt. Helm auf, Weste an und einmal durch Berlin, auf den großen Längs- und Querachsen der Stadt. Tag für Tag, Woche für Woche. Seit drei Jahren hat er auch seine Kamera dabei. Sie hängt an seinem Lenker und filmt alles, was vor ihm fährt, bremst, kreuzt oder überholt.

„Das mache ich, damit ich einen Zeugen habe, falls mir etwas passiert, falls ich umgefahren, beleidigt oder bedroht werde“, sagt er mit seiner ruhigen, sachlichen Stimme am Telefon. „Dann würde vor Gericht nicht Aussage gegen Aussage stehen, sondern Aussage gegen Videobeweis“, erklärt er. Dass seine Gefahreneinschätzung nicht übertrieben ist, erlebte Riccardo vor zwei Monaten. Da überholte ein Auto Riccardo so nah, dass der Seitenspiegel seinen Fahrradlenker erfasste, ihn und sein Fahrrad zu Boden stieß. Die Folge: Eine geprellte Hand und eine Anzeige bei der Polizei für den Autofahrer.

Und das ist noch glimpflich ausgegangen: Allein in den ersten fünf Wochen des neuen Jahres 2020 starben in Berlin fünf Fahrradfahrer. Autos rammten sie, nahmen ihnen die Vorfahrt, erfassten sie beim Überholen oder beim Rechtsabbiegen. 2018 starben insgesamt 445 Radfahrer in Deutschland, 63 Fälle mehr als noch im Jahr 2017. Verletzt wurden deutschlandweit 88.850 Radfahrer, elf Prozent mehr als im Jahr davor.

Doch Riccardo filmt nicht nur. Er veröffentlicht manche der Szenen online auf Twitter. Darin sieht man Autos, die ihn haarscharf überholen, ohne den Sicherheitsabstand einzuhalten. Man sieht Autos, die rechts abbiegen und dabei Riccardo die Vorfahrt nehmen. Man sieht Autotüren, die sich plötzlich öffnen. Alles potenziell lebensgefährliche Szenen, die wohl jeder Radfahrer kennt. „Es ist ein Hilferuf. Ich möchte sichtbar machen, dass es einige Autofahrer gibt, die rücksichtslos fahren“, sagt Riccardo, der sich auf Twitter den Accountnamen „RadRitter“ gegeben hat.

Sein Profilfoto zeigt einen Mann mit hoher Stirn, strengem Blick und viel Bart am Kinn. „Wenn wir wollen, dass mehr Menschen mit dem Rad zur Arbeit, zur Schule oder zum Einkaufen fahren, dann müssen alle gleichberechtigt sein. Jung, alt, Autofahrer, Fußgänger und Radfahrer. Nur so klappt Mobilitätswende“, sagt der Radritter. Doch das Gegenteil passiert. Die Stadt wird immer voller. 2019 waren circa 1,21 Millionen Autos in Berlin zugelassen. Mehr als je zuvor.

Riccardos Hilferufe werden hundertfach geteilt und gelikt. Gibt man auf Twitter im Suchfenster das Stichwort „Fahrradalltag“ ein, findet man noch viel mehr Posts und Videos von filmenden Fahrradfahrern in ganz Deutschland. „Was wir machen, ist auch eine Form des Selbstschutzes“, sagt Riccardo.

So sieht es auch der Berliner ADFC, der Allgemeine Deutsche Fahrradclub: „Wer einmal mit gut sichtbarer Kamera am Helm durch die Stadt geradelt ist, kennt den Effekt: Autofahrende nehmen plötzlich mehr Rücksicht und erlauben sich übliche Verstöße wie zu enges Überholen, Schneiden oder Missachten des Vorrangs weniger leichtfertig. Wer regelmäßig in Gefahr gebracht wird, will dies im Ernstfall beweisen können, das können wir nachvollziehen.“

Das Problem nur: Aus Sicht der Berliner und anderer Datenschutzbehörden hat diese Form des Filmens keine rechtliche Grundlage und verstößt damit gegen die Bestimmungen des Datenschutzes. „Wenn man seine Fahrt präventiv filmt, um einen Beweis bei Unfällen zu haben, dabei aber eine Menge Passanten und andere Radfahrer und Autofahrer mitfilmt, verstößt man gegen deren Grundrechte auf Datenschutz“, sagt Dalia Kues, Sprecherin der Berliner Datenschutzbehörde. Es sei denn, man nutzt Kameras, die zwar filmen, aber die Speicherstände ständig überschreiben. Im Falle eines Unfalles wird eine automatische Speicherung der Momente vor, während und nach dem Unfall veranlasst. Nur diese sind zulässig.

Für durchgehendes Filmen könnte „Radritter“ Riccardo also ein Bußgeld drohen. Dass er Ausschnitte seiner Aufnahmen dann ins Netz stellt, verstößt wiederum nicht gegen den Datenschutz, da er die Menschen darauf unkenntlich macht. Denn „sobald die Gesichter und die Nummernschilder der Autos verpixelt sind, handelt es sich nicht mehr um personenbezogene Daten und fällt damit nicht mehr unter den Datenschutz“, so die Sprecherin der Berliner Datenschutzbehörde.

Für Riccardo wiegen die Gefahren durch rücksichtsloses Verhalten schwerer als das Bußgeld. „Meine Tochter fährt mit dem Fahrrad zur Schule. Sie muss laut Gesetz auf der Straße fahren und kommt dabei an gefährlichen Kreuzungen vorbei“, sagt er. Rücksicht verlangt Riccardo von allen Verkehrsteilnehmern. Immer wieder zeigt er in seinen Videos auch Fahrradfahrer, die über Rot oder in die falsche Richtung fahren. Dafür spricht er die Menschen auch an. Bittet Autofahrer ihre Scheibe herunterzukurbeln und erklärt ihnen die Gefahren, wenn sie ihn schneiden oder auf dem Radweg parken. „Irgendwo muss man ja anfangen“, sagt er.