Konrad Tempel ist viel beschäftigt. Er ist zwar schon 85, eigentlich pensionierter Ausbilder von Lehrern, doch ihn zu Hause bei Hamburg anzutreffen, ist nicht einfach. In seinem Haus in Ahrensburg hat er in seinen Wintergarten geladen. Durch die große Fensterfront blickt man auf das Grün seines Gartens. Auf dem Tisch eine geblümte Decke und frische Tulpen. Daneben ein dünner Ordner mit Dokumenten in Klarsichtfolie. Auf leicht vergilbtem Papier steht dort: „Ostermarsch der Atomwaffengegner“, 15.4.60. Es ist das Flugblatt zum ersten deutschen Ostermarsch, ein Relikt seines Engagements.

© privatHelga und Konrad Tempel waren in der sich neu formierenden Friedensbewegung nach Ende des Zweiten Weltkriegs aktiv
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Helga und Konrad Tempel waren in der sich neu formierenden Friedensbewegung nach Ende des Zweiten Weltkriegs aktiv

Die Idee kam aus England, wo zwei Jahre vorher Friedensaktivisten einen dreitägigen Protestmarsch zu Ostern organisierten. Tempel demonstrierte in England mit. Und brachte die Idee anschließend nach Deutschland. Tempel, seine damalige Freundin und jetzige Frau Helga und 120 weitere Mitstreiter machten sich von Hamburg aus auf den Weg Richtung Bergen-Hohne, einem damaligen Raketen-Übungsplatz im Süden der Lüneburger Heide bei Celle. Es war der erste deutsche Ostermarsch, Tempel einer seiner Anführer.

Herr Tempel, Sie haben 1960 den ersten Ostermarsch in Deutschland organisiert. Wie kam es dazu?

Zusammen mit Mitstreitern aus der Szene der Kriegsdienstverweigerer wollten wir ein Zeichen gegen Atomwaffen setzen. Wir haben naiver Weise lange nach sogenannten Todeszentren gesucht – Orte, wo Atomwaffen lagern in Deutschland, „leider“ ohne Erfolg. Unverhofft las ich in einer Hamburger Zeitung am 6. Dezember 1959, dass auf dem NATO-Truppenübungsplatz Bergen-Hohne Raketen vom Typ Honest John erprobt würden. Sie sollten Atomsprengköpfe aufnehmen können. Die Idee eines Sternmarsches gegen diese nun nicht mehr so irreale Gefahr war geboren. Mit mir zusammen liefen von Hamburg aus 120 Menschen am Karfreitag 1960 los. Ähnlich große Gruppen kamen aus Braunschweig, Hannover und Bremen. Unterwegs übernachteten wir in Scheunen und Turnhallen. Während des viertägigen Marsches liefen wir pro Tag zirka 25 Kilometer. Wir mussten auf Unvorhergesehenes reagieren – auf Gaststätten, die plötzlich geschlossen hatten trotz vorheriger Reservierung, auf unaufhörlichen Regen, auf die akute Sorge, dass Gruppen unseren Marsch unterwandern und ihn für sich vereinnahmen wollten. Unser Ziel war es, für atomare Abrüstung auf beiden Seiten des Kalten Kriegs zu demonstrieren und wir vertrauten dabei auf die Macht des Einzelnen. Bei der Abschlusskundgebung sollte eigentlich ein Postbeamter aus Braunschweig sprechen. Doch als er die über 1.000 Leute sah, die vor ihm standen, war er so bewegt, dass ich für ihn einspringen und eine kurze Rede halten musste. 

In was für einer Zeit fanden die ersten Ostermärsche statt?

Für jede politisch interessierte Person war klar: Wir stehen am Rande eines Krieges. Die Gefahr lag praktisch vor der Haustür. Es hieß, schlechte Nachrichten aus dem Ostblock seien gute Nachrichten. Während die Atombombe in den Händen der Russen als bedrohlich angesehen wurde, wurde die Bombe der Amerikaner immer als etwas Schützendes dargestellt. Für uns war jedoch klar, dass wir eine generelle Abrüstung aller Nationen wollten, Abrüstung in West und Ost. 

Ihre jetzige Frau Helga Tempel hat den Marsch ebenfalls mitorganisiert. Inwiefern war dieser Anfang ein Engagement unter Freunden?

Wir haben uns bei unserem Engagement gegenseitig unterstützt – was vor allem hilfreich war, weil meine Frau viel besser formulieren kann als ich. Sie hat mehrere der Slogans der ersten Ostermarschjahre verfasst, zum Beispiel: „Unser NEIN zur Bombe ist ein JA zur Demokratie“. Ich war manchmal derjenige, der mit einer gewissen Furchtlosigkeit nach vorn geprescht ist. Nach dem Motto: „Wenn ich etwas für richtig halte, warte ich nicht, bis mir andere zustimmen“. Wir haben uns gut ergänzt. Unser gemeinsames Credo war: „Verständigung und Gerechtigkeit fallen nicht vom Himmel – wir müssen etwas dafür tun.“ 

1957 lehnten 63 Prozent der Deutschen die Atombewaffnung der Bundeswehr ab. Wie haben Sie die Anfänge der Anti-Wiederbewaffnungs-Bewegung erlebt?

Einerseits haben meine Frau und ich die ersten deutschen Kriegsdienstverweigerer auf die Prüfungsverhandlungen vorbereitet und zum Beispiel an kleinen pazifistischen Plakatdemonstrationen teilgenommen, hatten aber nur wenig Kenntnis über Aktionen an anderen Orten. Heute, in einer Zeit, in der Informationen per Mausklick verfügbar sind, kann man sich das nur schwer vorstellen. Es war gar nicht bis in unsere Köpfe gedrungen, dass es an vielen Stellen in Deutschland gewerkschaftliche Gruppen gab, die sich in Streiks und auch auf der Straße gegen die Wiederbewaffnung der Bundeswehr engagierten. Deshalb hatten wir keinen Kontakt zu ihnen.

Sie hatten eher Kontakt zu englischen Friedensaktivisten. Wie kam das?

Meine Frau und ich waren Korrespondenten der pazifistischen Wochenzeitung „Peace News“. Dadurch haben wir viele Friedensaktivisten in England kennengelernt und von vielen phantasievollen gewaltfreien Aktionen erfahren. Es war ein wunderbares Gefühl, eine internationale Gemeinschaft hinter sich zu wissen. Übrigens: Über den Beginn der deutschen Ostermärsche 1960 haben englische Zeitungen ausführlicher berichtet als die deutschen Medien.

Ein Zeitplan für den vollständigen Abbau der nuklearen Arsenale der Großmächte ist trotz Atomwaffensperrvertrag nicht bekannt. Nach aktuellen Schätzungen gibt es weltweit noch zwischen 15.000 und 16.000 nukleare Waffen. Wenn Sie diese Zahlen hören, was denken Sie haben Sie mit ihrem Engagement über die Jahre erreicht?  

Durch die Ostermärsche haben viele Leute gemerkt, dass sie nicht alleine mit ihrer Meinung sind. Ich denke, Menschen, die gegen Atomwaffen waren, haben sich durch unsere Märsche weniger ausgeliefert gefühlt. Die Verantwortung lag plötzlich wieder in den Händen der Menschen, nicht mehr nur in denen der Politiker. Ich denke, die Geschichte der Anti-Atomwaffen-Bewegung verläuft in Wellen, mal ist der Ruf nach Abrüstung lauter, mal die Zustimmung von Aufrüstung und Abschreckung. Eines Tages wird wieder vielen Menschen bewusst werden, in welcher globalen Gefahr wir uns durch die Atomwaffen befinden. 

Sind wir gerade kurz vor einem erneuten Höhepunkt der Welle?

Ich habe kein Twitter, aber ich lese in den Zeitungen, wie sich der US-Präsident Donald Trump verhält. Er droht mit einem Atomkrieg, das hätte ich nie gedacht. Wie gut, dass in dieser Lage russische Politiker besonnener auftreten. Ich bin großer Sorge, wie es weitergeht.

Wie schauen Sie heute, 58 Jahre nach Ihrem ersten Ostermarsch, auf die Bewegung. Gehen Sie dieses Jahr mit?

Bei unserem zweiten Marsch – von Bergen-Hohne nach Hamburg 1961 – sind wir mit schwarzen Fahnen und in großer Ernsthaftigkeit marschiert, um den Ernst der Lage abzubilden. Dass in den Folgejahren die Märsche bunte, fröhliche und lebensbejahende Veranstaltungen wurden und heute noch sind, finde ich viel besser. Allerdings haben wir uns früher mehr abverlangt – wir waren vier Tage lang unterwegs. Ob wir damit eindrucksvoller, glaubwürdiger waren? Heute für zwei Stunden auf die Straße zu gehen, ähnelt eher einem Sonntagsspaziergang. Meine Frau und ich werden dieses Jahr nach einigen Jahren Pause wieder mitmarschieren. Wir haben zwischendurch kritisiert, dass sich die Bewegung zu sehr zerfasert und zu viele Ziele gleichzeitig verfolgt hat. Das ist dieses Jahr zum Glück anders. Für uns war unser großes Ziel immer klar: Wir wollten die Abrüstung der Atomwaffen erreichen. Und dafür gehen wir auch dieses Jahr wieder auf die Straße.