Die ganze Stadt sieht aus wie im Dornröschenschlaf. Langsam fährt die Kamera durch die ausgestorbenen Straßen, auf immer kleiner werdenden Pfaden, die von Bambus überwuchert sind, bis sie auf einer Lichtung an einem traditionellen Bauernhaus haltmacht. „Oh, wie ich diesen Ort vermisst habe“, sagt Kasuki Matsumoto. Er hält gebannt inne. Man hört die Sehnsucht in der Stimme des jungen Mannes, die Freude, endlich wieder an dem vertrauten Ort zu sein. Rasch zieht der 23-Jährige sich Schutzkleidung an und betritt sein Zuhause, dass er nur noch alle paar Monate für ein paar Stunden besuchen darf. Er entstaubt den Familienaltar, die Bilder seiner Ahnen. „Ich habe damals alles verloren“, sagt er, „seit diesem Tag weiß ich, dass ich jederzeit wieder bereit sein muss, zu fliehen.“

Dieser Tag, das ist der 11. März 2011. 32 Kilometer unter dem Meeresboden vor der japanischen Ostküste beginnt um 14.46 Uhr die Erde zu beben. Die Erschütterungen erreichen das 163 Kilometer entfernte Gelände des Atomkraftwerks Fukushima-Daiichi innerhalb von 23 Sekunden. Zwei Minuten dauert das gewaltige Beben, dann ist es erst einmal still. Doch um 15.35 Uhr treffen bis zu 15 Meter hohe Tsunamiwellen auf das Kraftwerk – die Schutzmauern sind gerade einmal 5,70 Meter hoch. Was dann folgt ist eine Kaskade des Horrors: Der Ausfall der Kühlung der Reaktoren, die Kernschmelze, die Explosionen, die Brände. Unmengen kontaminiertes Wasser fließen ins Meer, radioaktive Wolken verteilen strahlenden Staub in einem Umkreis von hundert Kilometern. Mehr als 150.000 Menschen werden aus der Region evakuiert. Doch einige können oder wollen ihre Heimat nicht dauerhaft verlassen – sie sind zurückgekehrt auf ihre verstrahlten Höfe, in ihre verseuchten Häuser. Ihnen und ihren Geschichten nähert sich Thorsten Trimpop in seinem neuen Dokumentarfilm „Furusato – Wunde Heimat“.

Dafür führt er die Zuschauer in die Provinzstadt Minamisōma, die sich rund zwanzig Kilometer nördlich von Fukushima zwischen Bergketten und Pazifikküste schmiegt. Der Dokumentarfilm zeigt Einstellungen von menschenleeren, nebelverhangenen Wäldern, Äcker, auf denen eine erdrückende, unnatürliche Stille liegt, Straßen, auf denen kein Auto fährt, kein Mensch spaziert. Oft sind die Bilder nur begleitet vom Knacken der Messgeräte, die die tödlichen Strahlung hörbar, fast spürbar machen. Ein Teil der Stadt Minamisoma befindet sich in der Sperrzone rund um das Kraftwerk Fukushima und darf nicht bewohnt werden – doch einige angrenzende Viertel wurden nur zeitweise evakuiert. Der unsichtbaren Gefahr zum Trotz leben hier heute wieder beinahe 57.000 Menschen.

„Wir können dich nicht verlassen, denn wir wollen Fukushima retten. Wir werden weiterleben. Lasst uns mit einem Lächeln in die Zukunft blicken.“ Das singen die Kinder des Schulchors in Minamisōma. Doch recht glauben kann das wohl niemand hier. Die Kinder und Jugendlichen, sie sind selten geworden in der Gegend. Wer es sich leisten kann, schickt sie weg von diesem todbringenden Ort. Vor allem ältere Menschen trotzen hier der Strahlenbelastung. „Die Folgen werden uns nicht mehr betreffen“, erzählt etwa die 62-Jährige Sakura Noda, die mit ihrem Mann einen buddhistischen Tempel leitet. Die Sorge der Zurückgekehrten gilt der nächsten Generation, den Kindern: Welche Zukunft haben sie hier, in einem verseuchten Gebiet? Kann es überhaupt eine Zukunft geben an einem Ort, an dem das Leben für Kinder zu gefährlich ist?

Der Film nähert sich in ruhigen, unaufgeregten Bildern dem „Furusato“ an, dem Heimatempfinden, dem Gefühl der Verwurzelung. Auf verschiedenen Pfaden folgt er alten und jungen Menschen, die ihr verseuchtes Zuhause nicht loslässt. Dabei verzichtet Trimpop auf Bilder der Katastrophe – doch ihre Folgen, die sich durch das Leben der Menschen weiter fortzieht, werden von allen Seiten beleuchtet. Dass in den Interviews die emotionalen Grenzen ausgelotet, die existenzielle Notlage der Menschen mit Nachdruck offengelegt werden soll, zeigt der Film an einer Stelle ganz unverblümt: Mit einem Blick hinter die Kamera, der in einer Art Making-Off-Szene die Fragemethoden der Dokumentarfilmer zeigt. Damit geben Trimpop und sein Team den Impuls für eine Diskussion darüber, in welcher Form man über die Überlebenden berichten kann, darf und muss. Der Dokumentarfilm nimmt sich viel Zeit für die Erzählungen seiner Protagonisten, ist im letzten Drittel aber nicht mehr ganz so dicht wie zu Beginn. Wenn gegen Ende das Tempo der Erzählung nachlässt, fühlt sich der Zuschauer zuweilen etwas alleingelassen mit den bedrückenden Bildern.

Doch ein besonderer Coup ist Thorsten Trimpop noch gelungen: Ein Tepco-Ingenieur, der zum Zeitpunkt der dreifachen Katastrophe für die Reaktorsicherheit des Kraftwerks Fukushima-Daiichi zuständig war, war laut den Machern als erster hochrangiger Tepco-Mitarbeiter bereit, sich für einen Film interviewen zu lassen. Die Szene ist eindrucksvoll: Kenji Tateiwa steht auf einer menschenleeren Straße, er spricht langsam. „Ja, ich fühle mich verantwortlich für…“, er stockt, setzt den Satz nicht fort. Der 42-Jährige findet kaum Worte für das, was in ihm vorgeht. Es ist, als spräche er von sehr weit weg in die Kamera – von einem dunklen Ort. „Was hätte ich tun können, vor dem Erdbeben, vor dem Tsunami, das frage ich mich immer wieder.“ Er kämpft mit sich, wenn er von den Tagen der Katastrophe spricht, von den Technikern, die im Hauptkontrollraum immer weiter gearbeitet haben. Ohne Unterbrechung, tagelang, ohne Schlaf, ohne Verpflegung, ohne Wasser. Dazu die immer weiter steigende Strahlung. Kenji Tateiwa bricht das Gespräch ab. Die Schuld steht ihm ins Gesicht geschrieben – auch wenn er, der nach der Katastrophe ins Ausland ging, bis heute für Tepco Atomkraftwerke betreut.

Der Dokumentarfilm „Furusato“ zeigt schonungslos die Hilflosigkeit des Menschen angesichts des Scheiterns von Technik, angesichts der Gewalt der Natur. Der Blick auf die Stadt Minamisōma, die wie im Dornröschenschlaf wohl Tausende Jahre auf das Abklingen der Verseuchung wird warten müssen, mutet an wie eine Wirklichkeit gewordene Dystopie.