Ein Mann steht gebeugt in einem Fluss mitten im peruanischen Amazonasgebiet, sein blondes Haar steht ihm wirr vom Kopf ab, sein Hemd ist schmutzig, mit den Hände steckt er bis zu den Schultern im Morast. „Ich hab sie“, sagt er freudestrahlend. Vorsichtig zieht Joe Simcox eine riesige Knolle aus dem braunen Wasser hervor und hält sie der Kamera entgegen. „Die haben wir geerntet – ist sie nicht wunderschön?“ Essbare Raritäten wie diese Amazonaskartoffel sind Joe Simcox Leidenschaft. Er nennt sich selbst einen botanischen Entdecker, gemeinsam mit seinem Bruder Patrick bereist er die abgelegensten Ecken des Globus, um die Vielfalt der Pflanzenwelt zu erkunden. Rot-weiß-gesprenkelte Bohnen aus Bolivien, gelb-lila-marmorierte Samen aus Tansania, rosarotes Saatgut aus Vietnam – für die Gebrüder Simcox liegt in den Wildpflanzen der Schlüssel für die zukünftige Ernährung der Weltbevölkerung.

Dass die überhaupt bedroht sein könnte liegt an der schwindenden globalen Pflanzenvielfalt: Von den rund 250.000 bisher bekannten Pflanzenarten auf der Erde sind etwa 30.000 essbar. Davon spielen allerdings nur 30 Pflanzenarten eine Rolle für die Welternährung. Und deren Saatgut ist im Besitz einiger weniger Konzerne: Bei Mais haben nur fünf Saatgutfirmen rund 75 Prozent Marktanteil am EU-Saatgutmarkt, bei Zuckerrüben vereinen vier Unternehmen 86 Prozent des Marktanteils auf sich und beim Gemüsesaatgut kontrollieren fünf Konzerne etwa 95 Prozent des Sektors – davon allein Bayer-Monsanto etwa 24 Prozent.

Die Bildmontage zeigt Großaufnahmen besonderer Maiskörner aus dem Film „Unser Saatgut"

Die Bildmontage zeigt Großaufnahmen besonderer Maiskörner aus dem Film „Unser Saatgut"

Diese drastische Limitierung des Pflanzenvielfalt auf einige wenige Sorten, die in den Hand der globale Saatgutkonzerne liegt, nimmt der Film „Unser Saatgut – Wir ernten was wir säen“ zum Anlass, botanische Entdecker wie die Simcox zu begleiten und die unscheinbaren Linsen, Bohnen, großen und kleinen Samen einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Während in Berlin die Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) den politischen Erntedank eröffnet und die Herausforderungen der Landwirtschaft der Zukunft umreißt, kommt hier ein Dokumentarfilm in die Kinos, der die Zuschauer zu den Ursprüngen der Kulturpflanzen führt – und zu den Menschen, die deren Vielfalt bewahren wollen. Mit Close-Ups von Früchten und Pflanzen und langen Einstellungen von keimenden Samen will der Film für das Wunder des Saatgutes begeistern: wie aus einfachen Körnern ganze Kulturen entstehen.

Große Teile des Films spielen in Amerika, viele der Zahlen und Studien, die im Verlauf des Filmes gezeigt werden, beziehen sich implizit auf diese Weltgegend. Trotzdem weist die Doku darüber hinaus auch auf globale Zusammenhänge hin. Die Regisseure Taggart Siegel und Jon Betz besuchen durch die USA, fahren nach Mexiko, fliegen nach Hawai und Indien, um internationale Saatgut-Aktivisten zu Wort kommen zu lassen. Dabei wird die jüngere Geschichte des Kulturgutes nachvollzogen – in Interviews mit Expertinnen und Experten, mit Animationen und Comics. Von den ersten Schritten der Kapitalisierung von Saatgut, über den Einsatz von Saatgut als Mittel der politischen Einflussnahme, der Etablierung von Hybrid-Sorten und gentechnisch verändertem Saatgut bis hin zum Streit über geistiges Eigentum an Jahrtausende alten Kulturpflanzen – die Dokumentarfilmer erzählen die Geschichte des Saatgutes als eine von Verlust und Zerstörung, geben aber auch Anlass zu Hoffnung: Prominente Aktivisten wie die indische Physikerin und Umweltschützerin Vandana Shiva („Wir müssen die Vielfalt, Integrität und Freiheit des Lebens schützen. Das Saatgut muss frei sein, damit wir Menschen frei sein können“) und die Verhaltensforscherin Jane Godall („Sollten wir es tatsächlich schaffen, die Welt zu retten, werden wir eines Tages kopfschüttelnd fragen: Wie sind wir je auf die Idee gekommen, Lebensmittel zu erzeugen, indem wir sie in Gift ertränken?“) legen ihre Vision einer anderen Welt dar und werben dafür, Saatgut wieder wertzuschätzen.

Noch eindrücklicher sind allerdings die Szenen, in denen die Bauern und Saatgutschützer im Feld zu Wort kommen. So wie die indische Bäuerin Suman Khulko, die im ländlichen Bundesstaat Jharkhand lebt und von der Agrarkrise in Indien aus erster Hand berichtet, wo seit 1998 mindestens 300.000 Bauern Selbstmord begangen haben. Oder die Angehörige der Hopi in Arizona, USA, die ihre traditionellen Maissorten wie ihre Augäpfel hüten. Oder die Anwohner auf Hawaii, die sich gegen die Testfelder der Agrochemie-Konzerne in ihrer Nachbarschaft wehren. Oder BillMcDorman aus dem US-amerikanischen Arizona, der eine Saatgutbank ins Leben gerufen hat, um dem Verschwinden der Pflanzenvielfalt Einhalt zu gebieten. Jede dieser Geschichte ergänzt das Bild der vielfältigen, weltweit aktiven Bewegung, die die Macht globaler Konzerne über das Saatgut zurückzudrängen versucht.

Die indische Physikerin und Umweltschützerin Vandana Shiva kämpft für die Vielfalt des Lebens und spricht sich dafür aus, dass Saatgut frei sein muss

Die indische Physikerin und Umweltschützerin Vandana Shiva kämpft für die Vielfalt des Lebens und spricht sich dafür aus, dass Saatgut frei sein muss

Dass der Film dabei unverrückbar an der Seite der Aktivisten steht, zeigt eine klare Haltung, verhindert dadurch aber auch, dass die Konflikte rund um das Saatgut in all ihren Facetten beleuchtet werden. Statt sich den strittigen Fragen zu nähern – Kann traditioneller Anbau effizient genug sein, um die Weltbevölkerung zu ernähren? Welche Möglichkeiten eröffnen neue Techniken zur Saatgutveränderung wie CRISPR/Cas? Und wie kann Landwirtschaft im Kontext von globalen Märkten nachhaltige sein und den Bauern ein Auskommen bieten? – gibt sich dieser Dokumentarfilm oft genug nur mit Schwarz-Weiß-Bildern zufrieden. Dass die Berichte von Anwohnern in Hawaii („die Kissen meiner Kinder waren blutdurchtränkt“) nicht eingeordnet und erklärt, sondern mit dramatischer Musik unterlegt werden, trägt nicht zur Informationsvermittlung bei sondern entmündigt die Zuschauer: Die Fakten sollten der Dramatik genug tun. Es bedarf keiner Zuspitzung, keiner folkloristischen Überzeichnung der Landwirte. In diesen Details zeigt sich, was schließlich am Ende des Films offensichtlich wird: Taggart Siegel und Jon Betz wollen mit ihrem Film weniger aufklären als mobilisieren: Vor dem Abspann wird eine Liste an Dingen eingeblendet, die der Zuschauer in Zukunft anders machen soll: die Einkaufgewohnheiten hinterfragen, Saatgut vervielfältigen und tauschen, Organisationen zum Schutz von Saatgut unterstützen. Die Dokumentation will mehr sein, als ein Film. Sie will der erste Schritt einer Aktion sein.

„Unser Saatgut – wir ernten, was wir säen“ gibt einen Überblick über die weltweite Saatgut-Problematik, sensibilisiert die Zuschauer für den Verlust der pflanzlichen Vielfalt und zeigt in beeindruckenden Bildern die Schönheit, die im Ursprung unserer Kulturpflanzen liegt. Die besondere Stärke des Films sind die Protagonisten, deren Verehrung von Bohnen, Getreide- und Hirsesaat ansteckend sein kann. „Die Menschheit hat die Vielfalt der Erde so drastisch reduziert, dass wir heute an einem historischen Tiefpunkt angelangt sind“, erklärt der Saatgutwächter Bill McDorman am Ende des Films. „Aber wir wachen auf, und wir können es schaffen. Denn jedes einzelne Saatkorn hat das Potenzial, alles Verlorengeglaubte wieder zurückzubringen“.

„Unser Saatgut - Wir ernten, was wir säen“ (Seed – The Untold Story) Kinostart: 11. Oktober 2018

Weitere Geschichten über Artenvielfalt können Sie in der Ausgabe des Greenpeace Magazins 5.18 „Bloß nicht hinwerfen“ lesen. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!