Der Begriff der „drohenden Gefahr“ ist der zentrale Streitpunkt der neuen, verschärften Polizeigesetze – und verfassungsrechtlich umstritten. Durch ihn bekommt die Polizei das Recht einzuschreiten, auch ohne dass ein konkreter Verdacht besteht. Konkret bedeutet eigentlich, dass es belegbare Anhaltspunkte geben muss, dass eine Tat zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort geplant ist. Nach den neuen Gesetzen soll die Polizei nun noch früher eingreifen können ­– und zwar bereits dann, wenn „das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass diese in überschaubarer Zukunft terroristische Straftaten begeht“.

So definierte das Bundesverfassungsgericht „drohende Gefahr“ in einem Urteil von 2016 zu den Befugnissen des Bundeskriminalamts zur Terrorbekämpfung. Und daran orientieren sich die neuen Polizeigesetze. Verständlich ausgedrückt bedeutet das, die Polizei kann eingreifen, wenn sie das Gefühl hat, dass sich jemand komisch verhält. Die Möglichkeiten sind vielfältig: Die Beamten können DNA-Analysen vornehmen, Online-Durchsuchungen durchführen oder Präventivhaft anwenden.

Die Streitlinien verlaufen quer durch Politik, Gesellschaft und Polizei

Gerade um die letztgenannte Maßnahme gibt es Streit. So können in Bayern mutmaßliche Gefährder für unbegrenzte Zeit in Haft genommen werden, allerdings muss ein Richter den Gewahrsam alle drei Monate bestätigen. Nordrhein-Westfalen plant solch eine Präventivhaft für einen Monat einzuführen. Widerstand kommt vor allem von Menschenrechtlern, Aktivisten, Datenschützern, Polizeigewerkschaftlern und Politikern von den Grünen, der Linken, SPD und auch FDP. Die Streitlinien verlaufen quer durch Politik, Gesellschaft und die Polizei.

Unbeeindruckt von der Kritik marschierte Bayern bei der Ausweitung von Polizeibefugnissen voran. Nachdem der Freistaat vergangenes Jahr im Sommer sein Polizeiaufgabengesetz geändert hat, hat die CSU-Landesregierung im Mai dieses Jahres noch einmal mit Verschärfungen nachgelegt. Als Hauptgrund der Änderungen führen die Politiker eine effektivere Terrorbekämpfung an. Aber das neue bayrische Polizeigesetz geht darüber hinaus und gilt nun als das härteste bundesweit. Nordrhein-Westfalen und andere Bundesländer wollen Bayerns Beispiel folgen, während sich Menschenrechtler und Datenschützer fragen, was eigentlich die bedrohlichere Gefahr ist: Der Terrorismus oder die neuen Polizeigesetze.

Maria Scharlau, Polizei-Expertin bei Amnesty International, kritisiert vor allem, dass die neuen Gesetze unklar formuliert seien: „Durch die unbestimmte Definition einer ,drohenden Gefahr' bleibt völlig unklar, durch welches Verhalten Menschen in Zukunft ins Visier der Polizei geraten können“, so Scharlau. Sie fordert daher mehr Rechtssicherheit: „Alle Menschen müssen einschätzen können, bei welchem Verhalten sie gegebenenfalls mit polizeilichen Maßnahmen rechnen müssen.“

Drohende Gefahr greift nicht beim Einbruch in den Hühnerstall

Allerdings mahnt Christian Ernst an, erst einmal nüchtern zu betrachten, welche Auswirkungen die neuen Gesetze für den „Normalbürger" wirklich haben. Der Rechtsexperte forscht an der Hamburger Bucerius Law School zu Polizeirecht und sieht beispielsweise Demonstrierende sowie Umweltaktivisten von den neuen Gesetzen eher nicht betroffen. So greife der Tatbestand der „drohenden Gefahr“ im neuen bayrischen Polizeigesetz nur, wenn bestimmte Rechtsgüter in Gefahr seien: wie Leben, Gesundheit, Freiheit, sexuelle Selbstbestimmung, erhebliche Eigentumspositionen oder Sachen, die im besonderen öffentlichen Interesse liegen.

Wenn also Polizisten die drohende Gefahr wittern, dass Tierschützer in einen Hühnerstall einbrechen wollen, dabei planen, die Stalltür aufzubrechen, um anschließend die Haltungsbedingungen zu filmen, dann dürfen die Beamten genauso viel wie vor der Gesetzesänderung: die Tierschützer beobachten oder ihnen einen Brief, ein sogenanntes Gefährderanschreiben, zusenden. „Präventivhaft dürfte hier nicht in Betracht kommen. Weder ist die kaputte Stalltür eine erhebliche Eigentumsposition, noch eine Sache von besonderem öffentlichem Interesse“, sagt Ernst dem Greenpeace Magazin.

Allerdings räumt der Rechtswissenschaftler ein, dass die offene Definition der Begriffe problematisch sei. „Der Polizei genaue Grenzen zu setzen, ist die rechtliche Systematik, die sich in den vergangenen Jahrzehnten bewährt hat“, sagt Christian Ernst. Er findet es bedenklich, dass durch die Änderungen weit in die rechtliche Struktur eingegriffen würde. Die neuen Polizeigesetze stellten eine Zäsur dar und die neue Richtung sei klar: immer weitreichendere Befugnisse für die Polizei und immer stärkere Grundrechtsbeschränkungen für die Bürger. „Je unbestimmter Gesetze formuliert sind, desto mehr Spielraum erhält die Polizei. Das kann dann auch dazu führen, dass die Regelungen zu anderen Zwecken Anwendung finden, als es sich der Gesetzgeber ursprünglich gedacht hat.“, so Ernst. Vor diesen Folgen seien dann auch aktionistische Tierschützer oder Protestierende auf Demonstrationen nicht mehr gefeit.

Großdemonstration gegen NRW-Polizeigesetz soll diesen Samstag durch Düsseldorf ziehen

Die Sorgen des Rechtswissenschaftlers teilt Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der „Deutschen Polizeigewerkschaft“, nicht. Wendt beklagt gegenüber dem Greenpeace Magazin: „Die Polizei soll immer alles wissen, aber vorher nichts erfahren dürfen“. Daher befürwortet er neue Gesetze, die den Polizeibeamten frühere Eingriffsmöglichkeiten und mehr Handlungsspielraum geben. Aber auch innerhalb der Polizei und zwischen den beiden großen Polizeigewerkschaften gibt es Kontroversen. Der bayrische Landesverband der mitgliederstärkeren und als liberaler geltenden „Gewerkschaft der Polizei“ hatte Bedenken an den Verschärfungen angemeldet, was Rainer Wendt wiederum als „hanebüchenen Unfug“ bezeichnete.

Der hauptsächliche Protest gegen die neuen Polizeigesetze kommt allerdings aus der Zivilbevölkerung und treibt die Menschen in Massen auf die Straße. In Bayern hatten Zehntausende gegen die neuen Polizeigesetze demonstriert, allerdings ohne Erfolg: Im Mai dieses Jahres traten die Verschärfungen in Kraft. In Nordrhein-Westfalen läuft es anders: Hier hat der Innenminister Herbert Reul (CDU) das für diesen Juli geplante Polizeigesetz erst einmal vertagt – noch vor der Großdemonstration am Samstag. Einer Expertenanhörung im Landtag hatte der Gesetzentwurf nicht standgehalten, nun soll nachgebessert werden.

Gegen das geplante NRW-Gesetz demonstrieren wollen die Gegner dennoch. So rufen Juristenverbände, Bürgerinitiativen, Umweltverbände, Bundestagsabgeordnete und Parteien dazu auf, diesen Samstag gegen die Novellierung des NRW-Polizeigesetzes durch Düsseldorf zu ziehen. Die Veranstalter erwarten Tausende von Demonstrierenden. Ob die Nordrhein-Westfalen-Koalition aus CDU und FDP das überarbeitete Polizeigesetz beschließen wird, entscheidet sich erst im Herbst dieses Jahres. Im Sommer wollen Innenminister Reul und sein Stab am Entwurf feilen und prüfen, ob er verfassungsrechtlichen Bedenken standhält. Ob sie dabei den Begriff der „drohenden Gefahr“ genauer definieren oder aus dem Gesetz streichen, lässt der Minister offen.