Es ist ein düsteres Szenario, das die vier Übertragungsnetzbetreiber für einen Tag im Januar 2020 prognostizieren: Deutschland ist unter bestimmten Voraussetzungen nicht mehr in der Lage seinen Strombedarf komplett zu decken. Anders ausgedrückt: Es drohen Stromausfälle, Dunkelheit, Chaos. Das ist es, was hängenbleibt von dem „Bericht zur Leistungsbilanz“ der Netzbetreiber Amprion, Tennet, Transnet BW und 50Hertz.

In dem Bericht, der zuletzt Ende Januar überarbeitet wurde, stellen die Verfasser den zu erwartenden Stromverbrauch in Deutschland und die verfügbare Einspeiseleistung gegenüber. Um die Versorgungssicherheit auf Extremsituationen zu überprüfen, wählen sie einen Tag aus, an dem der Verbrauch als besonders hoch und die Energieproduktion als besonders niedrig angenommen wird. So kommen sie zu dem Ergebnis, dass im Januar 2020 die vorhandenen Energiereserven nicht mehr ausreichen, um den gesamten Strombedarf zu decken. Es fehlen 0,5 Gigawatt. Ein Alarmsignal – das allerdings auf einem unrealistischen Szenario beruht.

„Es müssten sehr viele Dinge zusammenkommen, damit das so eintritt“, sagt Frank Peter, stellvertretender Direktor der Denkfabrik Agora Energiewende. Insbesondere zu Beginn des Jahres, wenn der Stromverbrauch hoch ist, Hochdruckgebiete nur wenig Wind in die Rotorblätter blasen und die Sonne nur selten zum Vorschein kommt, sind es zwar die konventionellen Kraftwerke, die die Versorgung aufrecht erhalten. Das Eintreten einer Energieunterversorgung setzt aber nicht nur voraus, dass ein hoher Bedarf besteht und gleichzeitig überhaupt kein Strom aus Windkraft und Solaranlagen produziert wird. Die Netzbetreiber rechnen darüber hinaus mit Ausfällen in konventionellen Kraftwerken und blenden überdies die Möglichkeit aus, Strom aus dem Ausland zu importieren. „Theoretisch ist eine solche Situation natürlich möglich“, sagt Peter, „aber es geht doch ein ganzes Stück an der Realität vorbei.“

Der Grund für die sehr extremen Annahmen war von den Übertragungsnetzbetreibern nicht zu erfahren. Sie standen für eine Stellungnahme gegenüber dem Greenpeace Magazin diese Woche nicht zur Verfügung. In einer schriftlichen Stellungnahme räumt eine Sprecherin der TransnetBW GmbH ein, dass in dem Bericht die „voraussichtlich kritischste Situation“ betrachtet wird, „ohne damit eine vollumfängliche Aussage zur Eintrittswahrscheinlichkeit dieser Situation zu treffen“. Aus dem Bericht lasse sich keine Aussage über das absolute Versorgungssicherheitsniveau in Deutschland ableiten.

Es stellt sich die Frage, welche Aussage der Bericht dann haben soll? Warum wird so zugespitzt? Klar ist: Der Bericht schürt die Angst der Energieunterversorgung im Falle eines schnellen Kohleausstiegs. Die Mär von der Stromlücke wurde schon zu Zeiten der Debatte um den Atomausstieg häufig bemüht, ungeachtet der sehr hohen Versorgungssicherheit in Deutschland. Der Gedanke: Je weniger Kohlekraftwerke am Netz sind, desto geringer ist die Reservelast und desto höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Szenario eintreten kann. Hierbei werden jedoch viele wichtige Faktoren ausgeblendet.

© Agora EnergiewendeIm Januar unterliegt die Versorgung mit Ökostrom starken Schwankungen. Allerdings werden nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um Kohlestrom zu ersetzen
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Im Januar unterliegt die Versorgung mit Ökostrom starken Schwankungen. Allerdings werden nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um Kohlestrom zu ersetzen

„Dass der Energiebedarf steigt und gleichzeitig die Reservelast geringer wird, wenn wir Atom- und Kohlekraftwerke vom Netz nehmen, ist definitiv eine Entwicklung, die wir in Zukunft sehen werden“, sagt Frank Peter. „Das ist im Strommarktdesign so angelegt und Marktteilnehmer werden dafür Lösungen entwickeln.“ Gerade im Hinblick auf die Elektrifizierung der Mobilität ist davon auszugehen, dass Deutschland zukünftig deutlich mehr Strom benötigt. Das heiße aber im Umkehrschluss nicht, dass die Kohlekraftwerke weiterhin in ständigem Betrieb laufen müssten. Vor allem Gaskraftwerke haben noch ungenutztes Potenzial. Am 24. Januar zum Beispiel, als Kohlekraftwerke die Hauptversorgungslast trugen, waren Gaskraftwerke mit einer Leistung von zehn Gigawatt im Einsatz – möglich gewesen wären bis zu 28 Gigawatt. „Sofort sieben bis acht Gigawatt Leistung aus Kohlekraft vom Netz zu nehmen, wie es als Kompromiss bei den Jamaikasondierungen auf dem Tisch lag, ist möglich, ohne dass es zu Engpässen kommen würde“, sagt Peter.

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen, der die Bundesregierung berät, und das Umweltbundesamt kommen in zwei unterschiedlichen Stellungnahmen aus dem Oktober und November 2017 zu ähnlichen Ergebnissen. Aber auch aus einem gemeinsamen Bericht der Übertragungsnetzbetreiber aus Belgien, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Österreich, der Schweiz und Deutschland, der die Versorgungssicherheit in der Region untersucht, geht hervor, dass in Deutschland die Situation bis 2023/2024 „robust“ ist. In Engpasssituationen, die laut Peter in der Regel vorhersehbar sind, kann Deutschland demnach immer auf Importe aus den Nachbarländern zurückgreifen.

Zudem hätte die Stromverknappung durch einen Kohleausstieg sogar positive Nebeneffekte: Denn zusätzlich zur verbesserten Klimabilanz und der geringeren Luftverschmutzung lässt sich durch eine Verknappung mit erneuerbaren Energien mehr Geld verdienen. Das wiederum würde Investitionen in die Erneuerbaren fördern – und auch der Betrieb der im Netz verbleibenden Meiler würde automatisch rentabler.

Trotz der momentan gesicherten Versorgung dürfe ein Problem nicht missachtet werden, sagt Peter: die Energieeffizienz. Zwar hält der Energieexperte den geplanten Ausbau der erneuerbaren Energien auf 65 Prozent im Jahre 2030, wie er im Entwurf des Koalitionsvertrags verankert wurde, für gut und sehr ambitioniert. Wichtiger wäre seiner Ansicht nach aber ein Gesetz gewesen, das den effizienten Einsatz von Energie regelt und Anreize schafft, Strom zu sparen.

„Der Ausbau auf 65 Prozent ist einfacher, wenn wir effizienter werden und unseren Strombedarf, der in Zukunft eher steigt, halten oder gar senken“, sagt Peter. Denn je weniger Strom verbraucht wird, desto weniger konventionell und klimaschädlich produzierter Strom fließt durch die Netze und desto weniger Kohlekraftwerke müssen vorgehalten werden, die in Extremfällen einspringen können.