Der Soziologe Stephan Lessenich forscht an der Uni München zur globalen Ungleichheit. Im Interview erklärt er, warum es auf einfache Fragen keine einfachen Antworten gibt und was der Einzelne gegen Ungerechtigkeit tun kann.

Herr Lessenich, gibt es eigentlich etwas Gutes an Ungleichheit?

Die marktökonomische These besagt, dass Ungleichheiten sich leistungsfördernd auswirken. Einfacher gesagt: Wenn mein Kollege mehr verdient als ich, motiviert mich das, mehr zu arbeiten. Die Einkommensschere soll also zu Wirtschaftswachstum führen – und damit auch zur Besserstellung eines Landes in der globalen Ökonomie. Und laut dieser These führt das wiederum dazu, dass die nun Bessergestellten demokratische Reformen und Umverteilung fordern und die Einkommen sich dadurch angleichen. Die Schere schließt sich automatisch wieder.

Ist das auch die Perspektive Ihrer Forschung?

Nein, in unserer Forschung zu „Global Capitalism and the Dynamics of Inequality“ hinterfragen wir diesen Automatismus. Wir untersuchen soziologisch, wie die Ungleichheit innerhalb von Gesellschaften mit der Ungleichheit zwischen den Ländern dieser Welt verknüpft ist. Und die Politikwissenschaft sagt uns, dass demokratische Entwicklungen von den unterschiedlichsten Sachverhalten abhängen können, also auch davon, wieviel Macht die Reichen innerhalb einer Gesellschaft haben, um ihre privilegierte Stellung zu zementieren.

Also kritisieren Sie den vorherrschenden marktökonomischen Blick der Wirtschaftswissenschaften auf Verteilungsfragen?

Die wirtschaftswissenschaftlichen Theorien sind ja selbst diverser, als man denkt. Aber was sie doch gemeinsam haben, ist die Ansicht, dass die industriegesellschaftliche Entwicklung der westlichen Länder praktisch in gleicher Weise von den Gesellschaften des globalen Südens nachgeahmt werden kann und sollte. Und diese Perspektive der Wirtschaftswissenschaften wollen wir aufbrechen. Denn die Voraussetzungen für eine solche Entwicklung im globalen Süden sind ja durch Strukturen ungleichen Tausches im Weltmaßstab bestimmt: Nicht nur ökonomisch, sondern vor allem auch ökologisch hat der industrialisierte Westen anderen Weltregionen über die Zeit schwere Hypotheken aufgeladen.

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Stephan Lessenich forscht an der Uni München zur globen Ungleichheit

Woran machen Sie das fest?

Wenn Sie die Wertschöpfungskette von Konsumgütern wie Smartphones nachverfolgen, lässt sich leicht feststellen, unter welchen Arbeits- und Umweltbedingungen diese in den Produktionsländern hergestellt werden. Und das zeigt, dass wir nicht nur die sozialen Kosten unserer Konsumweise auf die ärmeren Länder auslagern – sondern auch die Umweltschäden und die Zerstörung von Lebensgrundlagen. Die Produktion in den reichen Industrieländern kann nur deshalb relativ sauber ablaufen, weil wir den ganzen Schmutz und Dreck im globalen Süden abladen. Nicht nur Einkommen und Kaufkraft sind global ungleich verteilt, sondern auch die Arbeits- und Umweltbedingungen.

Trotzdem nimmt die globale Ungleichheit doch insgesamt ab, oder?

Der aktuelle Stand der einschlägigen Forschung ist, dass in den letzten Jahrzehnten die innergesellschaftliche Ungleichheit zugenommen hat und dafür die zwischengesellschaftliche Ungleichheit weltweit abgenommen hat. Das heißt vereinfacht gesagt: Innerhalb von Gesellschaften geht es heutzutage ungerechter zu, dafür nimmt das Wohlstandsgefälle zwischen westlichen Industrieländern und dem globalen Süden langsam ab. Allerdings liegt das hauptsächlich an den Aufsteigerländern China und Indien: Die haben, gemessen an der Wirtschaftsleistung pro Kopf, einiges aufgeholt. Vor allem dadurch hat sich die Ungleichheit im globalen Mittel verringert. Ohne diese Entwicklung Chinas und Indiens gäbe es kein Schließen der Schere weltweit. Außerdem gehen in diese Betrachtung soziale Faktoren wie häusliche Sorge- und Erziehungsarbeit eben nicht ein. Und auch andere Dimensionen wie Lebenserwartung, Zugang zu Allgemeinbildung und Gesundheitswesen fallen heraus.

Was kann ich als Bewohnerin eines reichen Industrielands tun, wenn ich mit der fortwährenden Ungleichheit, die Sie festgestellt haben, nicht einverstanden bin?

Sie können natürlich in Ihrer eigenen Lebenswelt das verändern, was Ihnen wichtig und richtig erscheint. Sich also zum Beispiel fleischlos ernähren, auf Flugreisen verzichten oder ähnliches. Aber die wichtigere Dimension ist doch, die globalen Ungleichheitsverhältnisse selbst anzugehen, also politisch aktiv zu werden, um die Strukturbedingungen anzugreifen, die solch ungleiche Lebensverhältnisse überhaupt erst ermöglichen. Das globale Wirtschaftssystem grundlegend umzugestalten, das geht nicht nur durch individuelle Konsumentscheidungen.

Ein Gedankenspiel: Wenn wir auf der ganzen Welt eine absolut gleiche Verteilung an Wohlstand erreicht hätten, wie würden wir dann leben?

Nach den heute bei und für uns gültigen Maßstäben würden wir in Europa mit Sicherheit „schlechter“ leben, zum Beispiel was das gängige Konsumverhalten angeht. Aber auch wenn wir uns dann weniger kaufen könnten, wäre solch ein Leben unter sozialen Gesichtspunkten vermutlich das bessere. Denn das Entscheidende ist meines Erachtens, dass wir uns die Voraussetzungen der eigenen Lebensweise klarer machen – denn dann werden uns auch die Zusammenhänge zwischen Reichtum hier und Armut anderswo klar. Und wenn wir uns hierzulande gemeinsam darüber verständigen müssten, was eigentlich eine sinnvolle und global gerechte Lebensweise ist, dann würden wir dadurch auch unseren Mitmenschen näherkommen. Meine Hoffnung ist, dass die Art zu leben in einer egalitären Weltgesellschaft eine völlig andere und als solche auch attraktiv wäre.

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