Ja, Mücken sind Plagegeister. Aber sind sie auch eine Plage? Die Menschen in Deutschland würden diese Frage ganz unterschiedlich beantworten. Am Oberrhein jedenfalls geht dieser Tage die Angst um vor schwarzen summenden Wolken ungeahnter Ausmaße. Warme Temperaturen und reichlich Regen haben für ideale Fortpflanzungsbedingungen gesorgt. Örtliche Bürgermeister warnen vor einer „drohenden Katastrophe“, der Bundestagsabgeordnete Christian Jung fordert gar, den Katastrophenfall auszurufen.

Moment mal, wird da nicht die Mücke zum Elefanten gemacht? Ein feuchtwarmer Frühling ist ja kein Jahrhundertphänomen. Nein, die eigentliche „Katastrophe“ sind nicht die zahlreichen Insekten, sondern der Ausfall ihrer Bekämpfer. Auf einer Länge von 350 Kilometern entlang des Rheins stellt sich seit 1976 die „Kommunale Aktionsgemeinschaft zur Bekämpfung der Schnakenplage“ (KABS) den Mücken entgegen. Wegen technischer Defekte und Kabelbrand fallen aber nun die beiden Hubschrauber aus, mit deren Hilfe sie das Insektizid Bti ausbringt – ausgerechnet zur Hochwasserwelle. Ein „Massenschlupf“ sei nun zu erwarten, die Herausforderungen seien „dramatisch“.

Dass die Anwohner des Oberrheins nun einer Mückenplage entgegenzittern, wirft in Zeiten des grassierenden Insektensterbens die Frage auf: Was ist das für ein Wundermittel, das ihnen sonst die Insekten vom Leibe hält? Tötet es wirklich nur die lästigen Stechmücken und sonst nichts? Das nördliche Oberrheingebiet zwischen Bingen in Rheinland-Pfalz und Bühl in Baden-Württemberg gehört zu den dreißig „Hotspots“ der biologischen Vielfalt in Deutschland – es ist eine der artenreichsten Naturlandschaften der Republik. Genau dort großflächig Insektizide zu versprühen, kann man zumindest bedenklich nennen. Die KABS gibt an, ihre Bekämpfungsstrategie ziele auf den „Erhalt einer reichen Insektenfauna im Auwald“ ab. Der Gebrauch des Wirkstoffes Bti, der vermischt mit Eisgranulat ausgebracht wird, gewährleiste das.

Bei Bti handelt es sich um ein aus dem Bakterium Bacillus thuringiensis israelensis gewonnenes Eiweiß. Fressen die wasserlebenden Mückenlarven das biologische Schädlingsbekämpfungsmittel, setzen sich Bestandteile davon im Darm fest – Darmzellen werden zerstört, die Larven sterben. Bis zu neunzig Prozent der Mücken können so bereits im Jugendstadium vernichtet werden. Außer in Deutschland wird das Mittel auch in Schweden, in Frankreich und den USA verwendet. In Westafrika wird es in Kooperation mit der KABS zur Eindämmung der Malaria erprobt. Bti gilt als ökologische Alternative zu aggressiven Spritzmitteln.

Doch es mehren sich die Stimmen, die das in Zweifel ziehen. „Die Bekämpfung der Stechmückenplage entlang des Rheins mit Bti ist weniger umweltverträglich als ursprünglich angenommen“, stellt die Universität Koblenz-Landau im hochschuleigenen Magazin Uniprisma fest. „Entgegen der bisherigen Annahme reagieren die frisch geschlüpften Erstlarven der Zuckmücken derart sensibel auf Bti, dass sie bei der üblicherweise zur Stechmückenbehandlung am Oberrhein verwendeten Dosierung sterben.“ Die nicht stechenden Zuckmücken, die oft massenhaft auftreten und als sogenannte Tanzschwärme Passanten staunen lassen, sind ein wichtiger Baustein des Ökosystems, denn sie dienen Vögeln, Fledermäusen, Libellen und Fischen als Nahrung. 

Auch weitere Tiere werden von dem Insektizid in Mitleidenschaft gezogen: Wissenschaftler der Universität Koblenz-Landau stellten fest, dass Larven des Fadenmolches durch Bti kleiner blieben und Grasfrosch-Kaulquappen ein erhöhtes Stresslevel zeigten. In der südfranzösischen Camargue blieben die Küken von Mehlschwalben in Bti-behandelten Gebieten in ihrer Entwicklung deutlich zurück, weil ihnen die Nahrung fehlte. Die Königlich Schwedische Wissenschaftsakademie kommt zu dem Schluss: Es ist unzureichend erforscht, wie sich Bti auf die Nahrungskette auswirkt. An diesem Punkt setzen auch die Naturschützer vom bayerischen Bund Naturschutz an: „Stechmücken haben eine wichtige Rolle in der Lebensgemeinschaft aquatischer und terrestrischer Gebiete.“ Sie erfüllten eine wichtige Funktion als Nahrungstiere. „Eine Forderung der flächendeckenden Bekämpfung stellt den Menschen einseitig in den Mittelpunkt der Betrachtungen.“

Derlei Kritik blockt die KABS ab und erklärt, Bti richte keinen ökologischen Schaden an. Norbert Becker, der wissenschaftliche Direktor des gemeinnützigen Vereins, befindet sich allerdings in einem Interessenkonflikt: Er ist auch Geschäftsführer von Culinex, einem Hersteller von Bti. Die Zulassung für das Insektizid gilt bis nächstes Jahr – die Aktivisten des Bund Naturschutz und die Wissenschaftler der Universität Koblenz-Landau fordern nun, die Auswirkungen auf andere Organismen vor einer erneuten Zulassung genauer zu prüfen.

Der Bund Naturschutz findet, die Menschen sollten mehr Eigenverantwortung übernehmen und sich zum Beispiel mit Mückengittern und -schutzmitteln vor den lästigen Stichen schützen. „Natürliche Phänomene werden zu unerträglichen Zuständen oder gar zu Katastrophen aufgebauscht“, schreibt die Naturschutzorganisation. Erwähnt sei hier jedoch, dass es der Mensch war, der die extremen Mückenvorkommen erst möglich gemacht hat: Er begradigte den Rhein, wodurch die stillstehenden Altarme entstanden, in denen die Insekten sich nun so prächtig vermehren können. Wer der ganzen Sache etwas Positives abgewinnen möchte, kann die Mücken übrigens auch fangen, an das Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung schicken und so dabei helfen, den Mückenatlas Deutschlands zu erstellen.

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