Wo sich vorher die tiefen, staubigen Straßenschluchten durch Manhattans Hochhäuser gruben, fließen nun reißende Wasserströme. Anstelle von U-Bahn oder Auto fahren die Großstadtbewohner mit Booten zur Arbeit. Ebbe und Flut der Gezeiten bestimmen den Alltag. Das sind alles Spätfolgen vom durch kapitalistische Protiorientierung angeheizten Klimawandel. Nach Ewigkeiten des Raubbaus an der Natur brachen irgendwann sämtliche Dämme: Die Polkappen schmolzen, der Meeresspiegel stieg und Wassermassen strömten unaufhaltsam in die Straßen von New York.

Hier beginnt die Geschichte von Kim Stanley Robinsons neustem Roman New York 2140, der diesen Montag in deutscher Übersetzung erscheint und von dem ein Vorabdruck im Greenpeace Magazin 6.17 zu lesen war. Wir befinden uns 122 Jahre in der Zukunft. Während die New Yorker Eliten sich in die höher liegenden Gebiete in Upper Manhattan verzogen haben, haust im südlicheren Teil der Insel die arme Bevölkerung. Sie hat sich in die oberen Etagen von halb im Wasser versunkenen Hochhäusern gerettet – oder lebt gleich auf Dächern. So heißt es im Buch über zwei Hacker, die ihr Zelt auf dem alten Met Life Tower in Midtown aufgeschlagen haben: „Wie ein Supervenedig liegt das überflutete Lower Manhattan zu ihren Füßen, ehrfurchtsgebietend, wasserglitzernd, großartig. Ihre Stadt.“

Die Chance, die jedem Chaos innewohnt

Das klingt so romantisch, wie es für die Beschreibung eines abgesoffenen Stadtteils eben möglich ist. Und das ist Programm bei Kim Stanley Robinson, dem mehrfach ausgezeichneten, humanistischen Science-Fiction-Profi. Denn trotz des Untergangsszenarios, das der Buchautor zeichnet, wehrt er sich gegen die Klassifikation als Dystopie. „Zwar hat eine Dystopie auch eine soziale Funktion, aber die Utopie ist wichtig für die Hoffnung. Und darauf kam es mir an“, so Robinson gegenüber dem Greenpeace Magazin. Beharrlich betont er das utopische Moment seiner antizipierten Zivil- und Öko-Katastrophe. Er will mit seiner Erzählung zeigen, wie Menschen es geschafft haben, sich einer radikal neuen Situation anzupassen – eine „comedy of coping“, wie er das nennt. Außerdem geht es ihm um die Chance, die jedem Chaos innewohnt.

Und hier kommen wir zum eigentlichen Kern des Buchs: Kapitalismuskritik. Denn mit dem fängt das ganze Drama an. Wir leben, so lässt sich Robinson verstehen, in einem Wirtschaftssystem, in dem Umwelt- und Klimaschutz keinen zusätzlichen Profit bringen, ergo gemäß der Systemlogik keinen Sinn machen. Notwendige Veränderungen, die das Überleben der Menschheit gewährleisten würden, werden nicht umgesetzt – einfach nur, weil diese Veränderungen nicht kosteneffektiv sind. „Der Weltmarkt zeigt das Systemversagen: Alles wird zu niedrig bepreist, Umweltkosten nicht einberechnet“, sagt Robinson und fährt fort: „So überkonsumieren wir die Ressourcen unseres Planeten.“

© Stephan Martiniere / Sean CurtinDie Collage zeigt links das Buchcover von NY 2140 und rechts seinen Autor Kim Stanley Robinson
© Stephan Martiniere / Sean Curtin

Die Collage zeigt links das Buchcover von NY 2140 und rechts seinen Autor Kim Stanley Robinson

Seine Kritik richtet der Autor explizit gegen die Strukturen des kapitalistischen Systems. „Die Menschen sind okay, aber sie agieren innerhalb eines schlechten Systems. Sie werden zu Kapitalisten erzogen und sollen sich an die gesetzlichen Regeln eines Systems halten, das auf Ausbeutung angelegt ist“, sagt er. Diese Haltung zieht sich als roter Faden durch das Buch. Und es kommt, wie es kommen muss: Die Profite fließen, das Kohlendioxid strömt, die Wälder sterben, das Wasser steigt uns bis zum Hals. Aber in der Krise kommen einem ja bekanntlich die besten Ideen.

Nachdem in 2100 die Wassermassen alles geflutet haben, Menschen starben, flüchteten und ertranken – gibt es in Robinsons Zukunftsvision 40 Jahre später eine neue Art der Gemeinschaftlichkeit. Zwar ist das Wirtschaftssystem immer noch von neoliberalem Denken dominiert, aber durch die Enge des Lebensraums haben sich die sozialen Beziehungen verändert. Das Zusammenleben der Menschen ist solidarischer, kollektiver, lokaler geworden. Robinson veranschaulicht das am Zusammenspiel seiner Protagonisten, die zusammen im Met Life Tower leben.

Die Dystopie, die im doppelten Sinn keine ist

Die Sprache, die Robinson dabei gebraucht, beschreibt Situationen und Settings präzise, schweift zu historischen, architektonischen Fakten über New York oder das Funktionieren der Finanzmärkte ab, um einen sogleich wieder in die Handlung zu werfen. Und zeichnet so ein gut nachvollziehbares Bild einer in giftig-glitzernden Wassermassen versunkenen und dennoch lebendigen Urbanität. Umso irritierender sind die Textstellen, die einen aus dem Lesefluss abrupt herausreißen. So gerät die einführende Beschreibung weiblicher Romanfiguren an manchen Stellen so sachlich detailliert, dass es wie eine Produktbeschreibung anmutet. Und bei der ersten Flirtszene des Finanzmarkt-Spekulanten Franklin gleitet die deutsche Übersetzung unnötigerweise in Vulgärsprache ab.

Doch bevor man sich’s versieht, trägt einen der Erzählstrang weiter – zurück zur Gruppendynamik der Met-Life-Tower-Bewohner. Und von dieser kommt der Autor zum eigentlich utopischen Moment der Geschichte. Alles läuft auf die Frage hinaus: Was passiert, wenn die Menschen in einen fiskalen Streik treten, sich der kapitalistischen Systemlogik verweigern? Die Antwort findet sich als Plot in Robinsons Roman. Und wir müssen uns fragen, ob wir auch warten wollen, bis uns das Wasser bis zum Hals steht. Denn New York 2140 ist in doppelter Hinsicht keine Dystopie. Zum einen durch den utopischen Ausblick auf eine bessere Welt. Zum anderen ist das Setting eines überfluteten New York nicht so fiktional, wie man im ersten Moment denkt. Denn der Meeresspiegel steigt – und diese Bedrohung ist real.

Mehr Geschichten, wie Mensch und Meer zusammenspielen, gibt es in der Ausgabe des Greenpeace Magazin 3.18 „Wir Seeleute“. Einen Auszug des Romans können Sie in unserer Klimaausgabe 6.17 „Hitzefrei“ lesen, in der wir einen Vorabdruck der deutschen Übersetzung veröffentlicht hatten. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!