Zu viele Politiker glauben noch immer, dass sie trotz Klimakrise weiterrasen können wie bisher. Doch auf den Straßen gibt es Aufregenderes als schnelle Autos, findet Wolfgang Hassenstein

 

Was mir Sorgen macht: Politiker, die nicht verstehen

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Die Forderung nach einem Tempolimit, das weltweit selbstverständlich ist, bringt viele deutsche Politiker auf 180
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VORSICHT!
Die Forderung nach einem Tempolimit, das weltweit selbstverständlich ist, bringt viele deutsche Politiker auf 180

Am 17. Oktober lehnte der Bundestag mit 498 zu 126 Stimmen den Antrag der Grünen auf ein generelles Tempolimit auf Autobahnen ab. Einfach so, aus alter Gewohnheit. Eine ganz große Koalition aus Union, SPD, AfD und FDP wischte eine Maßnahme vom Tisch, die kostenlos und mit sofortiger Wirkung eine Einsparung von jährlich gut einer Million Tonnen CO2 gebracht hätte. Ich finde das schockierend.

Es beweist nämlich, dass die große Mehrheit der Abgeordneten den Ernst der Lage noch immer nicht verstanden hat – sonst hätten sich mehr von ihnen über Partei- und Koalitionsräson hinweggesetzt. Es ist nicht klug, gegen etwas zu stimmen, das hilft, die eigene Existenz und die seiner Kinder zu sichern. Es ist dumm.

Greta Thunberg hatte wenige Wochen zuvor in ihrer fulminanten „How dare you“-Rede in New York einen Satz gesagt, der mich besonders bewegte: „Wenn ihr die Situation verstehen würdet“, warf sie den versammelten Weltpolitikern an den Kopf, „aber weiterhin nicht handelt, dann wäret ihr böse, und das will ich nicht glauben.“ Der gönnerhafte Beifall im Saal war an dieser Stelle fast erstickt. Thunberg glaubt also, wie ich, weiter an das Gute im Menschen.

Was also tun, wenn Entscheidungsträger nicht verstehen? Man darf es wohl, so wie Thunberg und ihre Mitstreiter, nicht aufgeben, ihnen die Dinge zu erklären. Mit Blick aufs Tempolimit etwa muss man ihnen erläutern, dass es etwas anderes ist, ob man Menschen verbietet, ihre Wohnung zu heizen oder mit dem Auto zu heizen. Letzteres ist kein Grundrecht, sondern eine Gewohnheit, die einigen Spaß bereitet, aber für alle schädlich ist.

Ein Argument der Tempolimitgegner lautet, damit würde „nur“ ein halbes Prozent der deutschen Emissionen wegfallen. Aber: Wenn ein Heißluftballon abzustürzen droht, wirft man dann nicht zuerst den unnötigen Ballast ab? Vergessen wird außerdem oft, dass zur direkten CO2-Einsparung zahlreiche positive Folgeeffekte kämen: Die Hersteller könnten leichtere und effizientere Autos bauen, die nicht mehr an Extremgeschwindigkeiten angepasst sein müssen. Der Umstieg auf E-Autos würde deutlich einfacher – und die Bahn für Eilige attraktiver.

Einfach weitermachen, einfach weiterrasen wie bisher – liebe Abgeordnete, das geht nicht mehr. Planet Erde befindet sich nämlich im „Klimanotstand“ – so steht es in einer Erklärung, die im November im Fachblatt „Bio Science“ erschienen ist und von 11.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus 153 Ländern unterzeichnet wurde. Wenn wir „unsere Art zu leben“ nicht grundlegend ändern, heißt es darin, dann drohe „unsagbares menschliches Leid“. Es ist erstaunlich, wie viele Fachleute in Bezug auf den Klimawandel inzwischen ihre übliche wissenschaftliche Zurückhaltung abgelegt haben. Sie tun das, da bin ich mir sicher, aus höchster Sorge.

1,2 Millionen Tonnen Treibhausgase könnte Deutschland mit Tempo 130 laut Experten jährlich unmittelbar einsparen, drei Millionen Tonnen wären es bei Tempo 120 – das entspräche den Gesamtemissionen von Haiti mit seinen elf Millionen Einwohnern. Das bitterarme Land liegt in der Zugbahn von Hurrikans, die infolge der Erderhitzung immer heftiger werden.

Was mich hoff en lässt: Nachbarn, die demonstrieren

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Am 20. September demonstrierten Millionen für Klima, unter anderem in sechzig polnischen Städten – wie hier in Warschau
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GLOBALSTREIK
Am 20. September demonstrierten Millionen für Klima, unter anderem in sechzig polnischen Städten – wie hier in Warschau

Die aus allen Richtungen heranströmenden Menschenmengen weckten in mir Erinnerungen an meine Ur-Protesterfahrung. Als Teenie war ich Anfang der Achtzigerjahre bei den großen Friedensdemonstrationen gegen die atomare Nachrüstung in Bonn dabei. Damals waren die Leute in Sonderzügen und -bussen angereist – am 20. September 2019 kamen sie mit U-Bahn oder Fahrrad, denn fürs Klima wurde nicht nur in der Hauptstadt demonstriert, sondern überall. Allein in Hamburg waren 100.000 auf den Straßen. Freunde, Geschwister, Nachbarn waren auf den Beinen. Eine Hausmitbewohnerin, von deren Engagement ich bis dahin nichts ahnte, hatte mit ihrem Sohn Transparente gepinselt.

Und das Schönste: Am selben Tag passierte Ähnliches rund um den Globus! Im Internet sah ich Fotos von riesigen Protestzügen in Neuseeland, den USA, in Polen.

In Polen? War das nicht dieses (andere) Kohleland, in dem zuletzt die Medien auf Regierungslinie gezwungen wurden? Es gibt also noch ein widerspenstiges Polen, eins, in dem die Menschen nach der Melodie von „Hejo, spann den Wagen an“ Protestlieder singen. Wie wir damals.

Es macht ja Spaß, Wahrnehmungen geradezurücken, deshalb gleich noch hinterher: Ein Hoch auf England (wo es keineswegs immer nur um das Eine geht). Anfang Oktober folgten dort erneut Tausende dem Aufruf von „Extinction Rebellion“ und legten London lahm – und die Medien, darunter die ehrwürdige „Times“, berichteten ausführlich nicht nur über die Proteste, sondern auch über Klimawandel und Klimaschutz. Natürlich wurde angeregt die Form des Protests diskutiert. Aber einer Kernforderung der Klimarebellen kommen die Medien immer öfter nach: Berichtet endlich über die existenzielle Bedrohung. Sagt die ganze Wahrheit!

Auch in Deutschland wird seit Monaten mehr und in so guter Qualität über den Klimawandel berichtet wie nie zuvor. Zwar wundert man sich nachträglich, dass es dazu erst der Nachhilfe von Jugendlichen bedurfte, aber sei’s drum.

Vielleicht ist es das Wichtigste, was die Klimabewegung bis heute erreichen konnte: Der Umgang mit dem unbehaglichen Megathema hat sich komplett verändert. Ich werde darauf viel häufiger angesprochen und nach meiner Meinung gefragt, ich höre aber auch, dass andere sich ernsthaft übers Klima unterhalten – weil es sie bewegt und ängstigt, weil sie nach Antworten suchen und ahnen, dass sie mit Verdrängen aus der Nummer nicht mehr rauskommen.

Ich bin mir sicher, dass sich diese Erkenntnis schließlich auch im Bundestag durchsetzen wird.