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Empörung über «diktatorische Regierung» in Ungarn - und nun? Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

In der Pandemie-Krise arbeiten viele EU-Staaten mit drastischen Maßnahmen, aber keiner geht so weit wie Viktor Orban in Ungarn. Viele in der EU sind entsetzt. Aber was folgt daraus? Brüssel (dpa) - Es war nicht das erste Mal, dass Jean Asselborn sich über Ungarns Regierungschef Viktor Orban ereiferte. Schon 2016 forderte der luxemburgische Außenminister, Ungarn «notfalls für immer» aus der Europäischen Union auszuschließen - damals wegen Orbans Politik gegen Flüchtlinge, Pressefreiheit und Justiz. Jetzt hat sich Orban in der Pandemie-Krise weitreichende und unbefristete Vollmachten zum Regieren per Dekret erteilen lassen. Und wieder meldet sich Asselborn mit drastischen Forderungen zu Wort. «Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass innerhalb der EU eine diktatorische Regierung existiert», sagte Asselborn der Zeitung «Die Welt» (Mittwoch). «Ungarn gehört ohne Zeitverlust in eine strikte politische Quarantäne. Die ungarische Regierung darf keinen Platz mehr haben am Tisch der europäischen Institutionen, und vor allem darf eine Regierung, die unbefristet von keinem Parlament mehr kontrolliert wird, nicht mitentscheiden bei Sachentscheidungen in den einzelnen Ministerräten, die am Ende alle Menschen in Europa betreffen.» Die Botschaft ist klar, und Asselborn ist mit seiner Kritik bei weitem nicht allein. Und trotzdem dürfte er sich auch diesmal schwer tun, seine Forderungen durchzusetzen. Denn zum einen zeigen Einheit und Zusammenhalt der EU in der Coronavirus-Krise ohnehin schon große Risse, und weder EU-Ratspräsident Charles Michel noch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen haben Interesse daran, Spaltung und Lähmung in dieser schwierigen Zeit zu verschlimmern. Zum anderen fehlt schlicht das Instrument zum Rauswurf von EU-Mitgliedern. Zwar gibt es einen Mechanismus zur Aussetzung von Mitbestimmungsrechten - also das, was Asselborn mit «politischer Quarantäne» gemeint haben könnte. Das ist das Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge bei ernsthaften Verstößen gegen EU-Grundwerte. Doch wurde ein solche Verfahren gegen Ungarn bereits gestartet, auf Drängen des Europaparlaments, aber bislang ohne jedes Ergebnis. Nötig wäre vor dem Entzug von Stimmrechten eine einstimmige Entscheidung der übrigen EU-Staaten, und davon sind die 27 weit entfernt. Orban hatte sich am Montag vom Parlament mit umfassenden Sondervollmachten ausstatten lassen. Sie ermöglichen ihm, ohne zeitliche Befristung auf dem Verordnungsweg zu regieren. Zwar kann auch das Parlament ein Ende des Notstands beschließen. Zugleich besagt das Gesetz, dass die Vollmachten ohne zeitliche Frist bestehen bleiben, falls das Parlament verhindert ist. In diesem Punkt bleibt das Gesetz vage. So enthält es keine Kriterien dafür, wann das Parlament als verhindert gilt. Während des Notstands dürfen auch keine Wahlen und Referenden stattfinden. Verstöße gegen Quarantänebestimmungen sowie für die Verbreitung von Falschnachrichten sollen streng bestraft werden. Journalisten befürchten, dass ihnen wegen kritischer Berichterstattung Haftstrafen drohen könnten. Am Mittwoch legte Orban dann noch nach: Orbans Stellvertreter Zsolt Semjen brachte in der Nacht zum Mittwoch im Parlament den Entwurf eines Gesetzes ein, das in Zeiten des Notstands den gewählten Bürgermeistern Entscheidungsbefugnisse entzieht und auf sogenannte Schutzkommissionen überträgt. Deren Mitglieder ernennt die Regierung. EU-Kommissionschefin von der Leyen hatte am Dienstag mit einer Erklärung reagiert, allerdings ohne Ungarn beim Namen zu nennen. Am Mittwoch erwähnte ihr Sprecher Eric Mamer dann tatsächlich Ungarn explizit und mahnte, bei allen Notstandsmaßnahmen müssten Grundrechte gewahrt bleiben. Man werde Maßnahmen in allen EU-Staaten unter Beobachtung halten, «im Geiste der Kooperation». Der belgische Liberale Guy Verhofstadt twitterte daraufhin, das Schweigen der Kommission sei ohrenbetäubend. Budapest ließ sich mit seiner Reaktion auf Asselborn am Mittwoch einige Zeit. Dann schrieb Justizministerin Judit Varga auf Facebook: «Der luxemburgische Außenminister täte besser daran, die EU-Verträge und das (ungarische) Coronavirus-Gesetz durchzulesen, bevor er wieder einmal Schatten boxt». Dieses sei im Einklang mit den unveräußerlichen Rechten eines EU-Staats und diene dem optimalen Schutz der ungarischen Bevölkerung vor der Pandemie. Ob das alles in der EU vertretbar ist, bezweifelt aber auch der Präsident des Europaparlaments, David Sassoli. «Wir haben die Europäische Kommission als Hüterin der EU-Verträge gebeten zu beurteilen, ob die in Ungarn eingeführten neuen Gesetze mit Artikel 2 der EU-Verträge vereinbar sind», erklärte Sassoli. «Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben die Pflicht, diese Grundwerte zu wahren und zu schützen.»

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