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Nach dem Kundus-Schock: Wie geht es weiter in Afghanistan? Von Veronika Eschbacher, Michael Fischer und Julia Naue, dpa

Das nordafghanische Kundus ist wieder in der Hand der Taliban. Vor allem in Deutschland sorgt das für Erschütterung, weil dort zahlreiche Bundeswehrsoldaten ihr Leben ließen. Waren die 20 Jahre Militäreinsatz umsonst?

Berlin/Kabul (dpa) - Jahrelang hat sich die Bundeswehr einen verlustreichen Kampf mit den islamistischen Taliban um die afghanische Provinz Kundus geliefert. Gut einen Monat nach der Rückkehr der letzten deutschen Soldaten nach Hause haben die Aufständischen nun dort die Macht übernommen. «Die Meldungen aus Kundus und aus ganz Afghanistan sind bitter und tun sehr weh», erklärte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) am Montag. Wie geht es nun weiter in Afghanistan?

Steht nun auch die Eroberung des ehemaligen Hauptstandorts der Bundeswehr Masar-i-Scharif bevor?

Masar-i-Scharif, wo die Bundeswehr noch bis Juni ihr Hauptquartier hatte, ist ein klares Ziel der Islamisten. Bereits am Montag starteten sie eine Propagandakampagne gegen die Stadt und behaupteten in sozialen Medien, sie bereits von vier Seiten anzugreifen. Das stimmt allerdings nicht. Kämpfe gab es nur rund 20 Kilometer außerhalb. Es werden wohl nun Kämpfer, die Kundus und andere Städte im Norden erobert haben, für einen Angriff zusammengezogen werden. Ein Erfolg oder Misserfolg dürfte wie in anderen Städten auch von der Moral der Sicherheitskräfte abhängen.

Ist auch die Hauptstadt Kabul in Gefahr?

Das Tempo des Taliban-Vormarsches überrascht auch Beobachter. Sie halten es für möglich, dass sie sogar auf Kabul marschieren. Nach Einschätzung des Afghanistan-Experten Thomas Ruttig drängen die Islamisten aber auf eine vorzeitige Kapitulation der Regierungstruppen, die es in vielen Bezirken und einigen Provinzhaupstädten bereits gab. «Das wäre für sie viel bequemer, als Kabul militärisch erobern zu müssen.»

Haben die Taliban überhaupt noch ein Interesse an Friedensverhandlungen?

Dazu gehen die Meinungen auseinander. Manchen Beobachtern zufolge wollen die Taliban die militärischen Erfolge nutzen, um ihre Verhandlungsposition weiter zu stärken. Am Ende könnten sie praktisch alle Bedingungen diktieren, wie ein künftiges Afghanistan aussehen solle. Im Falle einer Verhandlungslösung können sie zudem auf internationale Anerkennung und Hilfen zählen. Es gibt aber auch eine wachsende Zahl von Experten, die befürchten, dass die Islamisten militärisch durchmarschieren - was in einem Bürgerkrieg enden könnte.

Wie unterstützen die USA die afghanischen Streitkräfte im Kampf gegen die Taliban?

Die USA unterstützen die afghanischen Streitkräfte im Kampf gegen die Taliban mit Luftangriffen. «Wir sind befugt und in der Lage, die afghanischen Streitkräfte vor Ort durch Luftangriffe zu unterstützen, wo und wann immer dies möglich ist», sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, John Kirby, erst in der vergangenen Woche. Man habe zugesichert, Luftangriffe auch weiter durchzuführen. Die große Frage ist, ob diese Luftunterstützung auch nach dem Abzug der US-Truppen anhalten wird. Die USA hatten in der Vergangenheit betont, dass das eher nicht der Fall sein werde. Medienberichten nach könnten diese Pläne aber überdacht werden, falls etwa die Hauptstadt Kabul ernsthaft in Gefahr gerate.

Wird der Vormarsch der Taliban etwas an dem bis Ende August geplanten Abzug der US-Streitkräfte ändern?

Danach sieht es nicht aus. Das Weiße Haus und das Pentagon betonen immer wieder, dass der Kampfeinsatz der US-Truppen in Afghanistan Ende August enden wird. US-Präsident Joe Biden sei der Auffassung, dass die afghanische Regierung und afghanischen Streitkräfte in der Lage seien, den Taliban die Stirn zu bieten, sagte die Sprecherin des Weißen Haues, Jen Psaki, Ende vergangener Woche. Nach 20 Jahren Krieg sei es Zeit, dass die amerikanischen Truppen nach Hause kommen, so der Standpunkt des Präsidenten.

Ist es realistisch, dass es noch einmal zu einem Bundeswehreinsatz in Afghanistan kommt?

Nein. Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, hat solche Überlegungen am Wochenende zwar ins Spiel gebracht. Ohne die USA oder sogar die ganze Nato wäre ein solcher Einsatz aber undenkbar. Und selbst wenn die Verbündeten mitmachen würden, gäbe es in Deutschland wohl kaum eine politische Mehrheit für einen neuen Kampfeinsatz der Bundeswehr. Kramp-Karrenbauer (CDU) reagierte am Montag entsprechend harsch auf den Röttgen-Vorstoß. Wer jetzt ein erneutes Eingreifen in Afghanistan durch die Bundeswehr verlange, müsse sich fragen lassen: Mit welchem Ziel, mit welcher Strategie, mit welchen Partnern, schrieb sie auf Twitter und fragte: «Mit der Bereitschaft, das Leben vieler unserer Soldatinnen und Soldaten aufs Spiel zu setzen?»

Werden nun hunderttausende Menschen aus Afghanistan versuchen, Zuflucht in Europa zu finden?

Eine zunehmende Fluchtbewegung gebe es längst, sagt Experte Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. Viele versuchten, auf legalem oder illegalem Wege aus dem Land zu kommen oder wenigstens ihre Familien vor einem möglichen Taliban-Sieg zu retten. Die Menschen in Europa und vor allem Deutschland bemerkten dies aber kaum wegen einer «maßgeblich von der deutschen Bundesregierung» betriebenen Abschottungspolitik, sagt Ruttig. Diese führe dazu, dass es Afghanen kaum mehr nach Europa schafften und wenn, dann höchstens auf die griechischen Inseln. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR kamen bis Ende Juni 1002 Afghanen nach Griechenland. Auch in die Nachbarländer zu gelangen, sei für Afghanen viel schwieriger geworden. «Die meisten Afghanen werden Flüchtlinge im eigenen Land», sagt Ruttig.

Werden die Abschiebungen nach Afghanistan ausgesetzt?

Das hängt von einem neuen Lagebericht des Auswärtigen Amts ab, der derzeit erarbeitet wird. Auf dieser Grundlage wird dann die Entscheidung über weitere Abschiebungen von Flüchtlingen aus Afghanistan getroffen. In der vergangenen Woche war die Abschiebung von sechs Afghanen nach Kabul lagebedingt verschoben worden.

Was wird aus den deutschen Hilfen für Afghanistan?

Die Bundesregierung setzt die an bestimmte Bedingungen geknüpfte zivile Unterstützung für Afghanistan auch nach dem Abzug der Bundeswehr zunächst fort. Auf einer Geberkonferenz im November 2020 hatte sie alleine für das laufende Jahr bis zu 430 Millionen Euro zugesagt. Die Hilfen sollen eigentlich zum Wiederaufbau und zur Stabilisierung des Landes beitragen. Es ist aber kaum vorstellbar, dass sie weitergezahlt werden, wenn die Taliban die Macht über das ganze Land erlangen. Nach Angaben des Entwicklungsministeriums werden bestehende Entwicklungsprojekte momentan noch «mit einem guten Risikomanagement» fortgeführt. «Neue Vorhaben werden nicht mehr gestartet», heißt es aber.

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