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Neue Anti-Corona-Maßnahmen: Sind sie nötig und was bringen sie? Von Annett Stein, Alexandra Stober und Sebastian Fischer, dpa

Kaum Ablenkung im ohnehin so trüben Monat November: kein Theater, kein Kino, kein Kneipenbesuch. Das trifft die Menschen hart. Doch ohne Einschränkungen würde viel Leid drohen, erklären Experten.

Berlin (dpa) - Noch Ende September hatte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gewarnt, dass es zu Weihnachten 19 200 Neuinfektionen am Tag geben könnte. Schon acht Wochen vor dem Fest liegen die Fallzahlen nun nicht mehr weit darunter, die Schwelle von 20 000 könnte schon in den nächsten Tagen erreicht werden. Bund und Länder ziehen nun mit einem Teil-Lockdown die Notbremse. Ist das nötig, wird das was bringen - und wenn ja, wie schnell? Ein Überblick.

Wie ist die Lage?

Nachdem die Fallzahlen im Sommer kaum Grund zu Sorge gaben, schießen sie seit einigen Wochen rasant in die Höhe - und der Winter, die Hauptzeit für Atemwegsinfektionen, beginnt gerade. Am Donnerstag meldete das Robert Koch-Institut (RKI) mit 16 774 gemeldeten Fällen binnen eines Tages einen Höchststand. Eine Woche zuvor hatte der Wert erstmals seit Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland die Marke von 10 000 überschritten.

Einen starken Anstieg gibt es auch bei Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen. Nach den Daten der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) wurden am Donnerstag 1696 Corona-Infizierte intensivmedizinisch behandelt, 826 davon wurden beatmet. Vor drei Wochen (8. Oktober) waren es noch 487 Covid-Intensivpatienten (239 beatmet). Rund 7500 Intensivbetten sind nach diesen Angaben in den deutschen Kliniken aktuell noch frei.

Warum jetzt ein Teil-Lockdown bei so vielen freien Intensivbetten?

Zehn Tage dauere es im Schnitt, bis Patienten mit Symptomen auf die Intensivstation verlegt werden müssten, erklärt Stefan Kluge, Leiter der Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Dort blieben beatmete Patienten dann zwei bis drei Wochen, Todesfälle träten meist erst im Verlauf auf. Das bedeute, dass sich die Zahl der Neuinfektionen erst mit einer Verzögerung von drei bis vier Wochen auf die Zahl der Todesfälle auswirke.

«In 14 Tagen haben wir die schweren Krankheitsfälle und unsere großen Zentren kommen unter Maximalbelastung», sagt Divi-Präsident Uwe Janssens. «Es ist jetzt schon nachweislich schlimmer als im Frühjahr.» Das Problem sei nicht so sehr die Zahl der Intensivbetten. «Wir haben mehr Betten und mehr Beatmungsgeräte als zu Beginn der Pandemie. Aber wir haben nicht eine müde Maus mehr beim Personal.»

Wie unter der Bevölkerung allgemein steigt mit wachsenden Fallzahlen auch unter Klinik-Mitarbeitern der Anteil akut Infizierter, die am Arbeitsplatz fehlen. Das Schichtsystem auf Intensivstationen könne dann schnell aus den Fugen geraten, so Janssens. Ein beatmeter Covid-19-Patient braucht allein bis zu fünf Schwestern oder Pfleger.

Sind die beschlossenen Maßnahmen sinnvoll?

Von sehr vielen Virologen, Epidemiologen und Fachgesellschaften werden sie klar befürwortet. Der Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft, Otmar Wiestler, sagte im Deutschlandfunk: Weil die bisherigen Maßnahmen offenbar nicht ausgereicht hätten, seien die Einschränkungen im November «auch aus wissenschaftlicher und medizinischer Sicht nicht zu vermeiden». Bereits Anfang der Woche hatte sich der Berliner Virologe Christian Drosten für einen zeitlich begrenzten Lockdown ausgesprochen. «Wenn die Belastung zu groß wird, dann muss man 'ne Pause einlegen», so der Charité-Wissenschaftler.

Der Bremer Epidemiologe Hajo Zeeb hält das Maßnahmenbündel für insgesamt ausgewogen. «Wir werden wahrscheinlich sehen, dass die Wirksamkeit im Paket liegt», so der Professor vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (Bips). «Das Leben soll nicht völlig zum Erliegen gebracht werden.» Schulen und Kitas offen zu lassen, halte er für vernünftig. Sie seien nach bisherigen Erkenntnissen keine Treiber von Infektionen.

Zumindest vereinzelt gibt es auch deutliche Kritik: Der Bonner Virologe Hendrik Streeck kritisierte, «dass der Schutz der Risikogruppe zu kurz kommt». Vorkehrungen und Tests in Pflegeheimen und Kliniken seien nicht systematisch genug. Den richtigen Weg aus der Corona-Krise kenne indes derzeit keiner, «es gibt hier keine Blaupause», sagte der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit nach den Beschlüssen von Bund und Ländern. Dennoch sei es wichtig, nun ein langfristiges Konzept zu entwickeln.

Wie wirksam können die Corona-Maßnahmen sein?

Schottische Forscher nahmen zuletzt weltweit Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie unter die Lupe - vor allem, um mehr über ihre Wirksamkeit herauszufinden. Dazu werteten sie bis Juli 2020 Daten in 131 Ländern aus. Am wirksamsten war ihren Erkenntnissen zufolge das Verbot öffentlicher Veranstaltungen. Die Ansteckungsrate sank im Mittel binnen vier Wochen um 24 Prozent. Dies hielten die Forscher für wesentlich effektiver als die Schließung von Schulen (15 Prozent) oder Arbeitsstätten (13 Prozent), wie das Team der Universität Edinburgh im Fachblatt «The Lancet Infectious Diseases» berichtete.

Wann wird sich ein Effekt der Maßnahmen zeigen?

Schon bei der ersten Infektionswelle im Frühjahr war von der Strategie «Hammer und Tanz» die Rede. An deren Anfang stehen zunächst drastische Maßnahmen, um den Anstieg der Fälle zu verlangsamen. Anschließend folgt mit dem «Tanz» eine Phase, in der man schrittweise zu normaleren Verhaltensweisen zurückkehrt. Der Effekt von Maßnahmen werde jeweils nach 10 bis 14 Tagen bei den Fallzahlen sichtbar, erläuterte der Virologe Schmidt-Chanasit, als Deutschland im Frühjahr noch schärfere Maßnahmen als jetzt beschloss.

Jüngst war diese Zeitspanne in Israel zu beobachten: Nachdem die Infektionszahlen dort auf mehr als 5500 Neuinfektionen angestiegen waren, galt vom 18. September an erneut ein rigoroser Lockdown. Im Gegensatz zu den bevorstehenden Regeln in Deutschland schlossen auch Schulen und Kindergärten. Noch zwei Wochen später wurde der Rekord von mehr als 9000 neuen Fällen registriert. Erst danach entspannte sich die Lage. Erste Lockerungen gab es, als die Neuinfektionen auf 2000 pro Tag gesunken waren - vier Wochen nach Lockdown-Beginn.

Von Gastronomie und Kinobetreibern heißt es mitunter, es gebe kaum Infektionen in ihrem Umfeld - wo stecken sich derzeit die meisten an?

Das lässt sich nicht im Detail beziffern. Aktuell lasse sich bei 75 Prozent der Infektionen nicht mehr sagen, woher sie kommen, sagte Kanzlerin Merkel am Mittwoch. Vom Robert Koch-Institut (RKI) heißt es: Viele der Fälle, für die der Ursprung der Ansteckung bekannt ist, gehen auf private Treffen und Gruppenveranstaltungen zurück. Die Angaben zum Infektionsumfeld seien allerdings mit Zurückhaltung zu interpretieren. Eine Ansteckung nachzuvollziehen, ist für ein begrenztes Umfeld - wie eine Familie oder eine Feier - eher möglich als zum Beispiel beim Aufenthalt in von vielen Menschen genutzten Räumen wie Bars. «In den 14 Tagen vor Symptombeginn kann sich ein Covid-19-Fall an vielen möglichen Orten und unter verschiedensten Umständen angesteckt haben», so das RKI. In bestimmten Umgebungen, etwa im Bahnverkehr, ließen sich Ausbrüche nur schwer ermitteln.

Warum ist der Aufenthalt in Räumen so problematisch?

Seit einigen Wochen verlagert sich das Leben stärker nach drinnen. In Räumen, wo sich die Luft wenig bewegt und kaum ausgetauscht wird, können Aerosole mit potenziell ansteckenden Viruspartikeln relativ lange in der Luft schweben. Dass die kleinsten Teilchen eine Rolle bei der Übertragung von Sars-CoV-2 spielen, ist unter Wissenschaftlern unstrittig.

Doch wie viel größer ist die Gefahr in Innenräumen? Das lässt sich bislang nicht genau sagen. In einer Studie aus China berichteten Forscher, dass nur ein einziger von 318 untersuchten Ausbrüchen mit drei oder mehr Infektionsfällen im Freien stattgefunden hatte. Die Auswertung bezieht sich auf Daten aus den Wintermonaten Januar und Februar.

Man brauche eine bestimmte Frischluftmenge pro Person, fasste Aerosolforscher Martin Kriegel von der Technischen Universität Berlin die Problematik im «Coronavirus-Update» zusammen. Man müsse eine gute Luftqualität, also viel Austausch haben, so Kriegel. «Wenn wir an das Thema Aerosole denken, dann atmen wir sie permanent ein. Und je mehr wir einatmen, desto höher wird wahrscheinlich das Risiko sein.»