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Starkomponist Richter feiert die Menschenrechte - und bangt um sie Von Werner Herpell, dpa

Ein 54-Minuten-Stück über die Menschenrechte - das könnte harter Hörstoff sein. Doch nicht bei Max Richter. Der wohl bekannteste zeitgenössische Klassik-Komponist legt mit «Voices» eine zugängliche, hochpolitische Programmmusik vor - sein Opus magnum.

Berlin (dpa) - Der knappe Titel dieses Albums täuscht ein wenig über den wuchtigen Inhalt hinweg: Schlicht «Voices» hat Max Richter, der wohl derzeit populärste Vertreter einer modernen, mit Elektronik- und Ambient-Elementen angereicherten Klassik, sein neues Werk genannt. Und tatsächlich sind eine Menge Stimmen zu hören in den zehn Stücken - als Teil einer politisch engagierten Programmmusik.

Der 54-jährige, im niedersächsischen Hameln geborene Brite hat sich nicht weniger als die Erklärung der Menschenrechte von 1948 zum Thema genommen. «Voices» ist, ausgestattet mit Sprechpassagen, Orchester und Chören oder auch nur Klavier-, Orgel und Synthesizer-Klängen von Richter selbst, sein Opus magnum: die bewegende Feier einer fundamentalen Neuerung vor 72 Jahren, aber auch eindringliche Mahnung und Warnung mit zugänglichen musikalischen Mitteln.

«Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren», so heißt es mehrfach auf Deutsch, Englisch und in anderen Sprachen. Die getragene, oft melancholisch-traurige 54-Minuten-Komposition lässt keinen Zweifel daran, dass Richter die Menschenrechte in der Welt von heute bedroht sieht - «von allen Seiten», wie er selbst sagt.

«Hoffnungen und Errungenschaften des liberalen Nachkriegskonsenses lösen sich doch gerade vor unseren Augen auf», stellt der Starmusiker im Interview der Deutschen Presse-Agentur fest. «Der Aufstieg populistischer Politik hat die alten Strukturen in Misskredit gebracht, bietet aber nur vorgetäuschte Alternativen.» Ignoranz werde mit Wissen auf die gleiche Stufe gestellt - es sind wohl Figuren wie Donald Trump, Jair Bolsonaro oder auch sein eigener britischer Regierungschef Boris Johnson «mit dem Brexit-Desaster», an die Richter denkt. «Die Corona-Pandemie hat die Notwendigkeit, humane Antworten auf Herausforderungen zu finden, jetzt noch erhöht.»

Obwohl Richter gut zehn Jahre an «Voices» arbeitete und seine Komposition daher etwas von der politischen Aktualität abkoppeln möchte, passt sie für ihn in diese Zeit. «Zwar ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte kein perfektes Werk, aber doch eine inspirierende Vision einer besseren, freundlicheren Welt», betont er. Es ging ihm auch um Gegensätze: «Der Ursprungstext ist sehr hoffnungsvoll, er richtet sich auf eine möglicherweise hellere Zukunft. Die Musik ist ein Raum, um zu reflektieren, was jetzt gerade los ist - insofern ist sie natürlich bedrückter.»

Startpunkt von «Voices» sei das Stück «Mercy» gewesen, das nun ganz am Schluss des Albums auftaucht. Richter schrieb es «als Reaktion auf die Ereignisse von Guantanamo», also den Umgang der USA mit Gefangenen nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001. Dass heute wieder Ereignisse in den Vereinigten Staaten, etwa «die derzeitigen entsetzlichen Ausschreitungen gegen Afroamerikaner», beim Hörer mitschwingen, ist für den Briten in Ordnung - «obwohl «Voices» natürlich vor diesen Ereignissen geschrieben und aufgenommen wurde».

Max Richter hat vor seinem weit über die Klassik hinausgehenden globalen Erfolg Komposition und Klavier im schottischen Edinburgh und an der britischen Royal Academy of Music studiert, in Florenz bildete er sich bei Luciano Berio weiter. Neben Neoklassik und Minimal Music von Arvo Pärt, Philip Glass oder Steve Reich widmete er sich auch elektronischen Sounds, schrieb Soloalben, Ballette, Film- und TV-Soundtracks («Waltz With Bashir») sowie Neuauflagen berühmter Werke («Recomposed by Max Richter: Vivaldi - The Four Seasons»).

Richters bisher umfangreichstes Projekt «Sleep» (2015) nahm sich viel, viel Zeit - es war für eine achtstündige Nachtruhe konzipiert. So einschläfernd ist «Voices» nicht, auch wenn Wiederholung bei diesem Werk ebenfalls dazugehört. «Alle meine Arbeiten sind verbunden», so Richter im dpa-Interview. «Sie entwickeln sich parallel über die Jahre, daher gibt es natürlich Ähnlichkeiten.» «Voices» rücke nun «die menschliche Stimme und Texte, die immer Teil meines Werks waren, in den Vordergrund».

In der ganzen Welt lud Richter per «Crowdsourcing» Menschen ein, an seiner idealistischen Komposition mit ihrer Lesung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mitzuwirken. Diese unterschiedlichen, vielsprachigen Stimmen verwob er mit den Klängen von Orchester und Chören sowie seinen eigenen sanft fließenden Keyboard-Parts - zu einem hochambitionierten «Musikstück als Ort des Nachdenkens».