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Vor den Ostermärschen: Ist der deutsche Pazifismus tot? Von Christoph Driessen, dpa

Gefühlt sind derzeit alle für Waffenlieferungen - sogar Anton Hofreiter kennt sich plötzlich mit Panzertypen und Präzisionsgewehren aus. Ist es naiv, jetzt noch für den Frieden zu demonstrieren?

Bonn/Berlin (dpa) - Krieg in Europa - das müsste die deutsche Friedensbewegung eigentlich beflügeln und den Ostermärschen riesigen Zulauf bescheren. Zulauf wie Anfang der 80er Jahre, als gegen den Nato-Doppelbeschluss Hunderttausende auf die Straße gingen und so wesentlich zum Sturz des damals höchst umstrittenen SPD-Kanzlers Helmut Schmidt beitrugen. Doch ob sich solche Szenen am kommenden Wochenende wirklich wiederholen, ist ungewiss.

Die Zahl der Kundgebungen sei im Vergleich zum vergangenen Jahr zwar deutlich auf über 100 gestiegen, sagt Kristian Golla vom Netzwerk Friedenskooperative in Bonn, das die Ostermärsche bundesweit koordiniert. Doch was die Zahl der Teilnehmer betreffe, werde sich zeigen müssen, «ob Bilder wie die von den getöteten Zivilisten in Butscha nun eher mobilisieren oder nicht vielleicht die Resignation verstärken». Zwei Wochen nach der großen Friedensdemo Anfang März in Berlin mit 500 000 Teilnehmern sei bei Kundgebungen an vier verschiedenen Orten nur noch die Hälfte zusammengekommen. Ein Unterschied zu früheren Bedrohungslagen ist, dass jetzt auch erklärte Linke vehemente Befürworter für bewaffneten Widerstand sind. Das gilt zum Beispiel für die Grünen, die 1980 auch aus der Friedensbewegung hervorgingen. Anton Hofreiter vom linken Parteiflügel präsentierte sich jüngst bei «Markus Lanz» als frisch gebackener Militärfachmann und machte sich für die Lieferung schwerer Waffen stark.

«Ich hab mich da in den letzten Wochen sehr tief eingegraben», berichtete er dem sichtlich verdutzten Moderator. «Polen hat PT-91, das sind kampfwertgesteigerte T72.» Dass es sich dabei um Panzertypen handelt, konnte in der Sendung nicht erklärt werden, denn Hofreiter machte sofort weiter: «Es gehören in meinen Augen dazu auch sowas wie schwere Scharfschützengewehre, G82, das hat 12,7 Millimeter Projektil. Damit können Sie die gepanzerten Fahrzeuge der russischen Nationalgarde brechen, was im Grunde heißt, Sie erschießen die Leute da drin.» Ja, das waren tatsächlich die Worte Hofreiters.

«Frieden schaffen ohne Waffen» - diese alte Kernforderung des deutschen Pazifismus scheint durch den Ukraine-Krieg infrage gestellt, wenn nicht gar diskreditiert. «Und das eben dadurch, dass Putin so etwas einfach nicht respektiert», sagt der Politikwissenschaftler Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung in Hamburg. «Insofern verpuffen hier meiner Meinung nach die klassischen Slogans der deutschen Friedensbewegung.»

Der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff geht noch viel weiter und bezeichnet die Teilnehmer der Ostermärsche in einem Gastbeitrag für die «Zeit» als «fünfte Kolonne Wladimir Putins». Der Außenpolitiker schreibt: «Wenn Ostermarschierer jetzt Abrüstung fordern und in Interviews vorschlagen, die Ukraine «gewaltfrei zu unterstützen», spucken sie den Verteidigern Kiews und Charkiws ins Gesicht.»

Ist es naiv oder sogar schädlich, angesichts der Gräueltaten an Zivilisten in Butscha und des Raketenangriffes auf einen mit Flüchtlingen gefüllten Bahnhof in Kramatorsk für den Frieden zu demonstrieren? Aus pazifistischer Sicht gilt zunächst einmal: Wer Waffengewalt ablehnt, kann gleichzeitig für gewaltlosen Widerstand eintreten. Die Bilder unbewaffneter ukrainischer Zivilisten, die russische Panzer zurückdrängten, erinnerten in ihrer Eindringlichkeit an Mahatma Gandhi (1869-1948) und seine Satyagraha-Kämpfer.

Dem pazifistischen Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung ging es darum, Leid und Schmerz und selbst den Tod auf sich zu nehmen, um damit auf Dauer das Herz des Gegners zu erweichen. Im Kampf gegen das Britische Empire erzielte Gandhi mit dieser Methode spektakuläre Erfolge. Auf den Einwand, Widersacher wie Hitler-Deutschland würden seine friedlichen Aktionen dagegen kaum beeindrucken, erwiderte er: «Ich weigere mich zu glauben, dass die Deutschen als Nation kein Herz haben oder erheblich weniger als die anderen Nationen auf der Welt.»

Spätestens nach Holocaust und Zweitem Weltkrieg erschien Gandhis Haltung als geradezu sträfliche Realitätsverweigerung. Auch Putin wird man mit gewaltlosem Widerstand kaum beikommen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) fordert deshalb, Deutschland müsse auch schwere Waffen an die Ukraine abgeben. Das heißt konkret: Panzer, Kampfjets, Kriegsschiffe oder Artilleriegeschütze.

Das Thema Waffenlieferungen wird unter Friedensaktivisten kontrovers diskutiert. Teile der Friedensbewegung haben sich dagegen ausgesprochen, da Waffen den Konflikt nur verlängerten und eine Eskalationsspirale drohe. Kühn, Experte für Rüstungskontrolle, hält dagegen: «Es sollte im Ermessen desjenigen sein, der angegriffen wird, ob er sich mit Waffen verteidigen will. Und das hat die Ukraine sehr deutlich signalisiert.»

Erstaunlicherweise sind es in Talkshows mitunter ausgerechnet die Militärs, die sich am vorsichtigsten äußern. Zu ihren gehört der Brigadegeneral a.D. Erich Vad, ehemaliger militärpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Er ist gegen die Lieferung schwerer Waffen. «Wir machen im Moment sehr viel Kriegsrhetorik - aus guter gesinnungsethischer Absicht», sagt Vad der Deutschen Presse-Agentur. «Aber der Weg in die Hölle ist bekanntlich immer mit guten Vorsätzen gepflastert. Wir müssen den laufenden Krieg zwischen Russland und der Ukraine vom Ende her denken. Wenn wir den Dritten Weltkrieg nicht wollen, müssen wir früher oder später aus dieser militärischen Eskalationslogik raus und Verhandlungen aufnehmen.»

Hier ist der General ganz auf der Linie der Friedensbewegung. «Was soll denn die Alternative sein?», fragt Kristian Golla. «Will man Russland niederkämpfen?» Die wichtigste Aufgabe sei derzeit nicht, Putin vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu bringen - so wünschenswert das auch wäre -, sondern, den furchtbaren Krieg zu beenden.

Vad sieht das ähnlich. Der Sicherheitsexperte und Militäranalyst geht davon aus, dass Putin den ursprünglich von ihm angestrebten Regime-Wechsel in der Ukraine nach dem weitgehenden Abzug aus dem Raum Kiew aufgegeben hat. «Deshalb stehen die Chancen für Verhandlungen eigentlich nicht schlecht. Beide Seiten könnten gesichtswahrend da rauskommen», meint der Militäranalyst.

Dagegen lässt sich nun allerdings anführen, dass der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer es noch am Montag bei Putin versucht und dabei offenbar auf Granit gebissen hat. Demnach ist der Kremlherr derzeit voll auf die angekündigte Großoffensive in der Ostukraine fokussiert. «Diese Schlacht wird mit Vehemenz geführt werden», ist Nehammers Eindruck.

Kühn hält es für möglich, dass sich Putins Haltung ändert, wenn auch dieser Angriff ins Stocken gerät. «Wenn die ukrainische Armee es schafft, die Russen erneut aufzuhalten, dann ist es wirklich möglich, dass Putin versucht, irgendwie gesichtswahrend mittels einer Verhandlungslösung aus der Sache wieder rauszukommen», glaubt Kühn.

Andere sind da weniger optimistisch. «Wir kapitulieren nicht. Niemals. Wir können untergehen. Aber wir werden eine Welt mitnehmen» - dieses Hitler-Zitat ruft die Philosophin Svenja Flaßpöhler in einem Gastbeitrag für die «Zeit» in Erinnerung. «Der deutsche Diktator verfügte noch nicht über Massenvernichtungswaffen. Putin, dem für seine Großreichsidee kein Preis zu hoch zu sein scheint, ist heute in einer anderen Situation.» Er könne die Welt mit in den Abgrund reißen. Flaßpöhlers Folgerung lautet: «Wer an einem Ostermarsch teilnimmt, warnt davor, sich der kriegerischen Logik Putins anzupassen und so zurück in die Vergangenheit zu stürzen.»