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Zerbrochener Konsens - Corona polarisiert die Gesellschaft Von Christoph Driessen, dpa

In den ersten Wochen der Corona-Krise gab es einen weitgehenden Konsens zwischen Politikern, Virologen, Medien und Bürgern. Diese Phase des Schulterschlusses scheint vorbei. Die Zeichen stehen auf Polarisierung. Berlin (dpa) - «Ich bin zum Staatsfeind Nummer 1 geworden, weil ich die Wahrheit über Corona herausgefunden habe», verkündet der Komiker Phil Laude in einem Video, in dem er als «Quarantäne Klaus» auftritt. Im nächsten Moment nimmt er ein Bettlaken von einer Wand ab und enthüllt dahinter die «Strippenzieher hinter diesem ganzen Corona-Schwindel»: Bill Gates, Greta Thunberg und Angela Merkel. Laudes Video ist eine Satire. Doch was sich in den sozialen Netzwerken oder auch teilweise bei den Demonstrationen am Wochenende abgespielt hat, unterscheidet sich davon nur noch graduell. Auf einem der Demo-Plakate stand: «Corona ist Fake. Es geht nur darum, dass die Milliardäre auch noch den Rest unserer Lebensgrundlagen billig aufkaufen können.» Der Kölner Polizeipräsident Uwe Jacob sagte am Montag, bei der Demo am Samstag sei eine «diffuse Masse» unterwegs gewesen, Familien mit kleinen Kindern eingeschlossen. «Ich muss sagen, das ärgert mich fürchterlich», sagte er. «Wir haben die Bundesrepublik seit fast zwei Monaten heruntergefahren, und jetzt kommen diese Ignoranten und Verschwörungstheoretiker und treten den Infektions- und Bevölkerungsschutz mit Füßen.» Was ist da passiert? Zunächst einmal scheint die Stimmung gekippt zu sein. Es erinnert ein wenig an die Flüchtlingskrise von 2015: Auch damals gab es zunächst einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass die Familien aus syrischen Kriegsgebieten an der Grenze nicht abgewiesen werden dürften. Bekanntlich hat dieser Konsens nicht lange gehalten. «Auch im Corona-Geschehen kann man verschiedene Phasen unterscheiden», sagt der Psychologe Stephan Grünewald. «Die erste Phase war durch den Schulterschluss zwischen Politikern, Virologen und Bürgern geprägt. Aber in dem Moment, in dem der Lockdown vollzogen wurde, setzte schon die zweite Phase ein: Die gesellschaftliche und private Stilllegung verstärkt Ohnmachtsgefühle angesichts von Corona. Und jetzt sind wir in der Phase der Polarisierung, in der Zweifel immer stärker wachsen.» Grünewald ist Leiter des Kölner Rheingold-Instituts, das mit tiefenpsychologischen Interviews die Stimmung in der Bevölkerung zu ergründen versucht. Seine neueste Studie ergab eine Zweiteilung der Gesellschaft: «Die eine Hälfte wünscht nichts sehnlicher als möglichst weitgehende Öffnungen, weil sie zuhause die Kinder beschulen muss oder um ihre wirtschaftliche Existenz fürchtet.» Die andere Hälfte habe sich im Grunde ganz gut eingerichtet in der entschleunigten Zeit: «Da gibt es die Mutter, die die ganze Zeit bei ihrem Säugling ist. Die Eltern, die wieder ihre studierenden Kinder daheim haben. Das Liebespaar, das soviel Sex hat wie nie zuvor.» Diese beiden Lager stünden sich jetzt gegenüber. Die erste Gruppe, die unter dem Lockdown leide, habe dabei das Gefühl, den Beschlüssen des Staates ausgeliefert zu ein. Dies werde noch dadurch verstärkt, dass ein Ende der Corona-Krise nicht absehbar sei. «Eine Fastenzeit können wir psychologisch gut durchstehen, weil wir wissen: An Ostern ist es zuende, da darf wieder geprasst werden. Aber hier ist es anders. Die ursprüngliche Hoffnung, jetzt halten wir mal zwei Monate still und dann kehren wir in unser altes Leben zurück, erweist sich als falsch.» Wer sich als ohnmächtig erlebt, neigt mitunter zu Verschwörungstheorien. «In Zeiten der Corona-Polarisierung entstehen neue Fronten, politisch zweifelhafte Koalitionen», erläutert Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler und Autor des Buches «Die Kunst des Miteinander-Redens». «Harte Verschwörungstheoretiker demonstrieren gemeinsam mit denjenigen, die die Grundrechtseinschränkungen für übertrieben halten.» In der jetzigen Zeit großer Angst und Verunsicherung fehle in Teilen der gesellschaftlichen Mitte die Immunität gegenüber hartgesottenen Ideologen. Pörksen sieht eine Zweiteilung auch in der Medienwelt. «Auf der einen Seite: die klassischen Medien und der seriöse Journalismus, den sehr viele Menschen gerade jetzt wieder richtig schätzen lernen. Auf der anderen Seite ist es schlicht erschütternd, in welchem Maße auch gestandene Akademiker, Ärzte und Menschen aus der Mitte der Gesellschaft Verschwörungstheorien und Desinformationsmüll über die Corona-Pandemie verbreiten.» Der Kampf gelte deshalb nicht nur der Pandemie, sondern auch der «Infodemie». In der «Tagesschau» vom Sonntag sagte ein Demonstrant aus Erfurt: «Ich hole mir meine Informationen aus dem Internet. Und das deckt sich nicht mit dem, was ich jeden Tag in Fernsehen und Presse serviert kriege.» Diese zurecht bemerkte Diskrepanz führt bei vielen Nutzern offenbar nicht zu der Erkenntnis, dass im Internet jede Menge dummes Zeug in Umlauf ist, sondern zu dem Verdacht, dass ihnen Presse und Fernsehen wesentliche Informationen vorenthalten. Pörksen sieht an dieser Stelle eine «gewaltige Medienbildungslücke»: «Es fehlt oft eine elementare Quellenkenntnis. Auf dem Bildschirm des Smartphones und in sozialen Netzwerken fließen Informationen ganz unterschiedlicher Qualität relativ unterschiedslos zusammen und werden - da sie einen über Freunde und Bekannte erreichen - als glaubwürdig wahrgenommen.» Radikale Rechte verstünden es, die Proteste gegen die «Corona-Diktatur» für ihre Zwecke zu nutzen, warnt Matthias Quent, Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena. Er hält einen neuen «Pegida-Moment» für möglich. «Dadurch, dass das Protestthema über die klassischen Themen der radikalen und populistischen Rechten hinaus geht, werden nun aber auch andere Milieus erreicht, insbesondere in den Spektren der Impf- und Globalisierungsgegner.» Der gemeinsame Nenner sei die Ablehnung der Regierung, der etablierten Medien und der demokratischen Konsensfindung. Im Grunde genommen erlebe die Gesellschaft nach der Flüchtlingskrise und der Klimadebatte nun die dritte Polarisierungs- und Radikalisierungswelle binnen weniger Jahre, meint Pörksen. Die Mehrheit der Gemäßigten sei deshalb gerade jetzt «gefordert wie selten zuvor».

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