Klimanachrichten regen bei den einen die Fantasie an und lähmen sie bei den anderen. Wolfgang Hassenstein hofft auf die Kreativen – in Politik, Wirtschaft und Protestkultur

Was mir Sorgen macht: Die Fantasielosigkeit der einen

© Fernando Moleres/laifSCHÖN KALT
In der grönländischen Diskobucht schmelzen Eisberge dahin. Sie stammen vom riesigen Jakobshavn-Isbræ-Gletscher, der immer schneller ins Meer fließt
© Fernando Moleres/laif

SCHÖN KALT
In der grönländischen Diskobucht schmelzen Eisberge dahin. Sie stammen vom riesigen Jakobshavn-Isbræ-Gletscher, der immer schneller ins Meer fließt

Nachrichten aus Grönland haben ja stets etwas Außerirdisches an sich – dabei liegt die Rieseninsel ganz real auf unserem Planeten. Wenn Forscher nun melden, der Eispanzer taue dort inzwischen sechsmal schneller als noch in den Achtzigerjahren, dann kann man das unvorstellbar finden – oder versuchen sich auszumalen, was es wirklich bedeutet. Seit 2010 habe Grönland im Schnitt 286 Gigatonnen Eis im Jahr verloren, berichtet ein Team um Jérémie Mouginot von der University of California im Fachblatt PNAS. Das entspricht sechs Bodenseefüllungen, die ins Weltmeer fließen – Jahr für Jahr.

Auch andere Studien kamen zuletzt zu dem Ergebnis, dass das Erdsystem schneller auf die Erwärmung reagiert als angenommen. So schmilzt auch in der Antarktis mehr Eis als gedacht, selbst im riesigen östlichen Teil, der lange als stabil galt. Wieder andere melden, dass sich die Ozeane unerwartet schnell aufheizen. Die dadurch bedingte Ausdehnung des Wassers ist bisher der stärkste Faktor für den Meeresspiegelanstieg – aber wohl nicht mehr lange.

Denn eine weitere PNAS-Studie warnte im Januar, das Grönlandeis nähere sich offenbar dem „Kipppunkt“, sein Abschmelzen drohe sich zu verselbständigen.

Dieser von Glaziologen befürchtete Effekt ist leicht erklärt, aber wenig bekannt (man kann damit auf Partys gut seine Gesprächspartner schocken): Schmilzt das mehr als drei Kilometer mächtige Grönlandeis weiter von oben ab, wird seine Oberfläche bald jene wärmeren niedrigeren Luftschichten erreichen, in denen es auch dann noch mehr taut als gefriert, wenn die Erwärmung gestoppt werden sollte. Forscher fürchten, dass dieser Point of no Return bei einer Erderwärmung von etwas über 1,5 Grad Celsius eintreten könnte. Die Folge wäre ein über Jahrhunderte unaufhaltsam um mehrere Meter steigender Pegel. Das klingt erst recht nach Science-Fiction. Allein 2018 hat der Meeresspiegel um 3,7 Millimeter zugelegt. Das ist Rekord: Nicht nur der Pegel, auch die Geschwindigkeit des Anstiegs nimmt inzwischen messbar zu.

Angesichts der Lage schockiert mich, wie fantasielos viele Politiker beim Thema Klimaschutz noch immer sind, wie kleingeistig sie innovative Ideen abtun – etwa Vorschläge zu einer sozial gerechten CO2-Steuer. Offenbar mangelt es den Verantwortlichen an Vorstellungskraft für die Folgen des Klimawandels – und dafür, dass sich Wirtschaft und Gesellschaft schnell und tiefgreifend ändern könnten.

Was mich hoffen lässt: Der Ideenreichtum der anderen

Es sind Tage wie der Ostermontag 2019, die mir wieder Hoffnung machen. Als Energiewende-Fan empfinde ich eine fast kindliche Freude, wenn ich von solchen Zahlen erfahre: Am 22. April lieferten Wind, Sonne und Co. in Deutschland stundenlang mehr Strom als verbraucht wurde, insgesamt deckten sie an diesem Tag 77 Prozent des Bedarfs (Braunkohle neun, Atomkraft acht, Steinkohle drei Prozent). „Neuer Rekord!“, twitterte Professor Bruno Burger vom Fraunhofer-Institut Solare Energiesysteme in Freiburg, der auf der Internetseite „Energy Charts“ akribisch den aktuellen Stand der Energiewende dokumentiert.

Ja doch, ich weiß schon: Das war ein sonniger und windiger Feiertag mit entsprechend niedrigem Strombedarf, eine Momentaufnahme. Es wird auch wieder Tage geben, an denen die Wirklichkeit „schmutzig und grau“ ist, wie der „Spiegel“ kürzlich in seiner Titelgeschichte über den „Murks in Germany“ schrieb. Das Nachrichtenmagazin brachte eine ernüchternde Bestandsaufnahme der Energiewende: „Merkels wohl größtes Scheitern, so die Bilanz zum Ende ihrer Kanzlerschaft, besteht darin, dass sie klimapolitisch wenig bewegt hat, obwohl sie persönlich das Thema so früh umtrieb.“ Und es stimmt: Der Ausbau von Windkraft und Netzen stockt, die Emissionen sind noch immer viel zu hoch. Illustriert war der Verriss mit lädierten Rotoren und Stromleitungen.

© Rob Pinney/London News Pictures via ZUMA Wire<p>SCHÖN SCHRÄG<br />
Performance bei einer Extinction-Rebellion-Demo in London</p>
© Rob Pinney/London News Pictures via ZUMA Wire

SCHÖN SCHRÄG
Performance bei einer Extinction-Rebellion-Demo in London

Aber: Ich will mir die Hoffnung nicht nehmen lassen, dass aufgrund der sich wandelnden politischen Stimmung, immer lauterer Notsignale vom Raumschiff Erde und atemberaubender technologischer Fortschritte die große Erfolgsgeschichte weitergeht. Denn auch so kann man die Energiewende sehen: Fast die Hälfte des Strommixes kam in den ersten Monaten des Jahres aus sauberen Quellen. Andere Länder sind sogar noch weiter. Großbritannien etwa, das Mutterland der rußigen Industrialisierung, kam nun erstmals eine ganze Woche lang ohne Kohle aus.

Ich glaube daran, dass Politik und Wirtschaft – angetrieben durch streikende Schüler, Dürrewarnungen und ein allseits stark steigendes Problembewusstsein – schließlich doch noch das große Rad drehen werden, ganz einfach, weil sie es müssen. Die neue außerparlamentarische Koalition aus Jugend und Wissenschaft hat eine solche Glaubwürdigkeit, dass sie in kürzester Zeit vieles ins Rollen gebracht hat. Ich bin überzeugt, dass das erst der Anfang ist.

Kürzlich hatten wir Besuch aus München, eine Verwandte und Freundin, die bei einem Luft- und Raumfahrtkonzern arbeitet und dienstlich in Hamburg zu tun hatte. Sie ist mit der Bahn angereist – nicht etwa, weil ich beim Greenpeace Magazin arbeite, sondern „wegen Greta“. Ihre Kollegen hätten ob der Wahl des Verkehrträgers teils ungläubig mit dem Kopf geschüttelt, teils aber auch applaudiert. Da passiert was!

Wunderbar finde ich, was Forscher der North Carolina State University jetzt herausgefunden haben: Kinder, die in der Schule etwas über den Klimawandel lernen, beeinflussen auch die Einstellungen ihrer Eltern. Vor allem bei Konservativen sowie bei Vätern wuchs die Sorge ums Klima, und zwar besonders stark, wenn es Töchter waren, die „erzieherisch“ auf sie einwirkten. Konservative und Männer – gerade sie hatten sich in den USA von Warnungen bisher unbeeindruckt gezeigt.

Was mich hoffen lässt, das sind also ganz klar die Mädchen – und Jungs – dieser Welt. Kinder: Die Macht ist mit Euch!