Der Politikwissenschaftler Jérémie Gagné befragt die Menschen regelmäßig dazu, was sie bewegt. Er erklärt ihre größten Sorgen, die Probleme der Klimabewegung, den Aufstieg der Rechten – und hat Ideen, wie wir aus dem ganzen Schlamassel wieder rauskommen.

Herr Gagné, Kriege und Krisen machen den Menschen zu schaffen. Und während die AfD in Umfragen und Wahlen hinzugewinnt, ist Klimaschutz zum Reizwort geworden. Wie geht es Ihnen damit?

Mich beunruhigen die Entwicklungen der letzten Monate. Die Klimabewegung hatte es geschafft, ihr Thema gesellschaftlich zu verankern. Nun macht es mich traurig zu sehen, wie das zugeschüttet wird von giftiger Debatte, in der sich viele sozusagen in ihre Lager zurückziehen. Ohne konstruktives Gespräch lässt sich beim Klimaschutz wenig gewinnen. Davon bewegen wir uns eher weg, und das erfüllt mich mit Sorge.

Wie erklären Sie sich das?

Die Klimadebatte hat positive Potenziale, wenn das Verbindende überwiegt. Aber es zeigt sich, dass sie in destruktive Dynamiken abrutschen kann. Die Mehrheit akzeptiert heute die Realität des Klimawandels und nimmt ihn als dringlich wahr. Das ist nicht mehr die entscheidende Spaltungslinie.

Wo verläuft sie nun?

Wir haben ein sogenanntes Kooperationsdilemma, bei dem es darum geht, wer wann und wie viel beiträgt. Sie stehen im Supermarkt und spüren den Druck, sich gut verhalten zu müssen, haben aber nicht den Eindruck, dass die anderen mitziehen. Menschen erzählen uns in unseren Forschungsinterviews, dass sie den Vergleich von Lebensstilen fürchten. Sie spüren nicht, dass es darum geht, wie alle gemeinsam ein besseres Land gestalten, sondern darum, was sie essen oder wie sie sich fortbewegen. Viele sagen: Von mir wird alles verlangt, aber was die große Wirtschaft macht, die den Löwenanteil der Emissionen verursacht, darum kümmert sich keiner. Acht von zehn Menschen empfinden die Gesellschaft als ungerecht.

Wie wirken sich die Krisen auf die Menschen aus?

Sie stehen unter Stress durch die Inflationskrise, die sich in ihrer Wahrnehmung zuspitzt. Gerade in der unteren Einkommenshälfte der Bevölkerung gibt es keine Spur Erleichterung, dass es im letzten Winter keine akuten Versorgungsengpässe gab. Diese Menschen haben existenzielle Abstiegs- und Verlustängste, ihre Lebensqualität sinkt.

© Margaret Fox<p>Jérémie Gagné, 37, arbeitet für die gemeinnützige internationale Organisation „More in Common“. Er führt Umfragen für Parteien, Stiftungen und Gewerkschaften in Deutschland durch, etwa zu Wählerunzufriedenheit, Rechtspopulismus und politischer Teilhabe. Zuletzt erschien eine Studie zur gesellschaftlichen Stimmung durch die Preiskrise.</p>
© Margaret Fox

Jérémie Gagné, 37, arbeitet für die gemeinnützige internationale Organisation „More in Common“. Er führt Umfragen für Parteien, Stiftungen und Gewerkschaften in Deutschland durch, etwa zu Wählerunzufriedenheit, Rechtspopulismus und politischer Teilhabe. Zuletzt erschien eine Studie zur gesellschaftlichen Stimmung durch die Preiskrise.

Diese Angst spielte auch beim erbitterten Streit ums Heizungsgesetz eine Rolle.

Die Menschen erzählten uns, dass sie verunsichert waren, weil es gefühlt um riesige Beträge ging, die auf Einzelne zukommen. Alles hing lange in der Schwebe. Zugleich kochte die Debatte: Neue Protestformen, etwa der Letzten Generation, setzten auf Provokation im Alltag, während die Boulevardmedien dagegen feuerten und vorgaben, die Sache der Arbeitnehmer im Pendlerstau zu verteidigen. Solch eine überspitzte Lage lädt die Menschen dazu ein, sich einer Seite anzuschließen – keine ideale Ausgangslage für den Klimaschutz, bei dem es um faire Lastenverteilung geht.

Wie kann Klimaschutz konsensfähig werden?

Man müsste ihn normalisieren. In anderen Politikfeldern sind die Menschen ein verbindliches Geben und Nehmen gewohnt. Denken Sie an die Rentenversicherung, in die alle einzahlen. Diese Pflichtbeiträge halten wir für völlig normal. Wenn wir das ab nächstem Monat nur noch über individuelle Appelle steuern würden – zahlt auf eigene Faust ein! – hätten wir ein Problem. Doch genau so individualisierend haben wir lange die Klimadebatte geführt. Und das haben die Menschen gelernt. Nicht gelernt haben sie, dass etwas Gutes für alle rauskommt: eine lebenswerte Zukunft. Warum also nicht eine Klimaversicherung einführen?

Nicht nur die Bundesregierung, auch die Klimabewegung hat in der Bevölkerung stark an Rückhalt eingebüßt, die Unterstützung für sie hat sich laut Ihren Umfragen seit 2021 halbiert. Ist die Letzte Generation schuld?

Das muss man einordnen. Für die Protestaktionen der Letzten Generation haben 85 Prozent der Befragten eher kein Verständnis. Damit reiben die Aktionen in einer Krisenlage an einem wunden Punkt, den die Klima- und Umweltbewegung bei Teilen der Bevölkerung schon zuvor hatte: einem gefühlten Mangel an Verständnis für andere Lebenswelten. Viele nehmen die Bewegung als zu linksbürgerlich, zu akademisch wahr und finden keinen Anschluss – obwohl den meisten diese Themen an sich wichtig sind. Das muss ich betonen: Eine derzeit unbeliebtere Bewegung bedeutet nicht automatisch, dass das Klimabewusstsein gesunken wäre!

Es gibt also eine schweigende Mehrheit für den Klimaschutz – eine ganz andere, als die Rechten sie darstellen?

Ja, und das Schlimme ist, dass sich die wahrgenommene Polarisierung über die realen Verhältnisse legt. Wenn die Leute den Fernseher einschalten, vernehmen sie nur die lauten Stimmen. Dann passiert es leicht, dass sie glauben, die lauten Stimmen seien in der Mehrheit. Die anderen, die leisen, fühlen sich dann vereinzelt und stimmlos. Unsere Kolleginnen und Kollegen in den USA sprechen von der „erschöpften Mehrheit“.

Aus Ihren Umfragen geht hervor, dass sich die meisten Deutschen strengere Vorschriften für Klimaschutz wünscht. Wo sind diese Menschen?

Die Nuancierten hört man schlechter. Und wenn eine Debattenlage so unangenehm wird, dass die Menschen das Gefühl haben, da dominieren sehr schrille Stimmen, während konstruktive Stimmen ständig in die Defensive geraten, sagen sie sich lieber: Jetzt warte ich ab und schaue mal, was da rauskommt.

Die Bundesregierung hatte sich Fortschritt auf die Fahnen geschrieben. Was ist schiefgelaufen?

Entscheidend ist, dass sich die Politik nicht in Einzelmaßnahmen verstrickt, die dann von der Boulevardpresse zerpflückt werden – sondern dass sie ein Zielbild vermittelt, wo sie mit dem Land hinwill. Letzteres ist nicht gelungen. Die Menschen sehen ein Land im Wartestand.

Die Unzufriedenheit entlädt sich oft in Gewalt. Tätliche Angriffe auf Politiker und Politikerinnen haben stark zugenommen, besonders gegen Grüne. Wieso richtet sich der Hass ausgerechnet auf sie?

Die Brutalisierung ist insgesamt ein großes Problem. Sie betrifft sogar Rettungskräfte im Einsatz. Was die Grünen angeht: In unserer Forschung sehen wir zwei gesellschaftliche Pole, zwischen denen gerade in kulturellen Fragen starke Spannungen bestehen. Einer davon ist kosmopolitisch geprägt, mit dem Ideal einer individualisierten, weltoffenen, nachhaltigen Gesellschaft – wir nennen sie die Offenen. Die stehen häufig den Grünen nahe. Auf der anderen Seite gibt es die Wütenden, die autoritär denken, sich ein nationaleres Deutschland wünschen und die Entwicklung der letzten Jahrzehnte kritisch sehen – viele von ihnen haben derzeit eine Heimat bei der AfD gefunden. Für sie werden die Grünen zum Feindbild.

© Sébastian Thibault / Anna Goodson Agency<p>"Viele Menschen haben Abstiegsängste. Ihr Leben verschlechtert sich tatsächlich, nicht nur gefühlt."</p>
© Sébastian Thibault / Anna Goodson Agency

"Viele Menschen haben Abstiegsängste. Ihr Leben verschlechtert sich tatsächlich, nicht nur gefühlt."

Viel von der Wut wird ja schon durch Symbole geweckt – Gendern und Lastenräder etwa. Ist die Gesellschaft empfindlicher geworden?

Es geht um Auf- oder Abwertung und um die Verteidigung von Selbstbildern. Ist man Teil eines öffentlich als erstrebenswert wahrgenommenen Lebensmodells, oder bleibt man außen vor? Teile der Bevölkerung fühlen sich nicht gesehen oder wertgeschätzt. Sie tauchen gefühlt in den Idealen der als tonangebend empfundenen Milieus nicht auf, wollen deren Lebensstil aber nicht aufgedrückt bekommen.

Demokratie- und menschenfeindliche Ansichten haben laut der „Mitte-Studie“ stark zugenommen. Die AfD holte in Hessen und Bayern viele Stimmen. Wie ist der Rechtsruck zu erklären?

Es gibt definitiv einen harten Kern im geschlossen nationalautoritären Bevölkerungsteil, quasi die Hausmacht der Partei. Wir sehen in unseren Zahlen aber auch Menschen, die ideologisch weniger gefestigt und eher orientierungslos sind – viele von ihnen stammen aus dem unsichtbaren Drittel, wie wir es nennen. Für manche von denen kommt die AfD in Frage, weil sie den anderen Parteien misstrauen und sich vom politischen System nicht ernst genommen fühlen.

Die Abgehängten also?

Das trifft es nicht. Wir teilen das unsichtbare Drittel auf in die Enttäuschten, die eine starke Fürsorge vom Gemeinwesen erwarten, aber den Eindruck haben, die Gesellschaft sei zu kalt, zu egoistisch, zu brutal in ihrer Wettbewerbslogik. Die andere, sehr junge Gruppe nennen wir die Pragmatischen. Sie sind nicht politisch sozialisiert, hatten noch nie ein Verhältnis zum Gemeinwesen, denken stark an ihre eigene Lebensplanung und weniger in großen Zusammenhängen. Wegen ihrer fehlenden positiven Beziehung zum Rest der Politik fällt es den Unsichtbaren manchmal leichter, der AfD eine Chance zu geben. Übrigens werden gerade die jungen Leute unter ihnen oft übersehen, wenn es etwa heißt, die Jugend sei ja so engagiert beim Klima – das ist nur die halbe Wahrheit.

Demnach ist mehr als ein Drittel der Bevölkerung offen für die AfD – das klingt beunruhigend.

Das heißt um Himmels Willen nicht, dass die alle AfD wählen! Große Bevölkerungsteile sind weitgehend zufrieden und immun gegen die AfD. Allerdings sehen wir insgesamt ein geringes Vertrauen in Politik und häufig auch Misstrauen bei den Menschen untereinander, wir sprechen von einer „doppelten Vertrauenskrise“. Und gerade viele Jüngere sehen unsere Demokratie als gegeben an, nicht mehr als großes Geschenk.

Wie gewinnt man sie wieder?

Wir brauchen neues Vertrauen in die Politik, vermittelt durch Schlüsselpersonen. In der relativ politikfernen, misstrauisch gewordenen Lebenswelt einer Kleinstadt haben ganz andere Stimmen Gewicht – im Wirtshaus, im Stadtrat, in Vereinen, in der lokalen Wirtschaft, in sozialen Medien. All diese Menschen können dafür sorgen, dass Debatten breit geführt und glaubwürdig werden. An die müssen sich Politik und Aktivismus wenden. Weil Menschen nun mal weniger dem Klimaaktivisten vertrauen als ihrer Gewerkschaftsvertreterin oder dem Bekannten in der örtlichen Feuerwehr, der neuerdings ständig zum Waldbrand rausfahren muss. Darum sind auch Aktionsbündnisse wie das von Fridays for Future mit Verdi so wichtig: Von solchen Brückenschlägen brauchen wir mehr.

Die Politik sollte vermitteln: Dieses Land soll lebenswerter werden, das wird deine Rolle dabei sein, und du wirst davon profitieren!
Jérémie Gagné, Politikwissenschaftler

Gibt es Menschen, die nicht mehr erreichbar sind?

Ganze Gesellschaftsteile abzuschreiben wäre sehr gefährlich. Wer die Menschen aufgibt, überlässt Kräften den Raum, die es mit der Demokratie nicht gut meinen. Bei unseren Umfragen konnten wir im geschützten Umfeld mit den meisten Menschen sehr konstruktiv über Klimathemen sprechen, die mitnichten spurlos an ihnen vorbeigehen – und sei es, dass sie merken, wie ihr Garten austrocknet.

Es geht also mehr um Nahbarkeit als um Fakten?

Bei vielen reicht das Pochen auf Klimagerechtigkeit gegenüber dem globalen Süden nicht. Man muss ihnen glaubhaft zeigen: Du hast deinen Platz, du bist mit deiner Lebenswelt gesehen.

Wann hat die Politik denn mal richtig auf die Gefühlslage der Menschen reagiert?

Nicht umsonst arbeitet die Europäische Union mit dem Begriff des Green Deal, in Anlehnung an den New Deal der Dreißigerjahre in den USA. Der lieferte den Menschen einen Entwurf für ihre Zukunft – ein wirtschaftliches und soziales Aufbruchsversprechen, während andere Länder wie Deutschland in den Faschismus gerutscht sind. Ein anderes Beispiel ist die deutsche Reformpolitik der Siebzigerjahre. Die war nicht unumstritten, machte aber ein Angebot: Wir modernisieren diese Gesellschaft, wir wagen mehr Demokratie, wir stärken die Belegschaften. Das müsste man auf die heutige Situation übertragen.

Und wie ginge das?

Der wichtigste Schritt beginnt in der Kommunikation. Erzähl mir eine Geschichte, in der ich eine wichtige Rolle spiele – und spielen will! Wir investieren jetzt in Infrastruktur der allerersten Sahne. Und bitte nicht mit dem leblosen Begriff Transformation kommen. Lieber sagen: Dieses Land soll lebenswerter werden, das wird deine Rolle dabei sein, und du wirst davon profitieren. Dieses Land wird weniger verschmutzt sein. Es wird gerechter sein und deine Stellung in der Gesellschaft wird sich so verbessern. Wir könnten uns etwa trauen zu sagen: Wir wollen das beste Bahnsystem der Welt. Das ist unser Ziel. Darauf arbeiten wir hin. Ich glaube, dieses Gefühl, dass Politik den mutigen, großen Wurf wagt, dass Politik noch etwas will, das muss rüberkommen.

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 1.24 "Gefühle". Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!

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