Rund eine Million Gazellen der Art Procapra guttu rosa durchstreifen die mongolische Steppe, mal in Herden von 200.000 Tieren, mal in Kleingruppen, dann wieder allein. Eine von ihnen – sicher nicht die Einzige, aber die Einzige, von der wir es wissen – hat dabei binnen fünf Jahren mehr als 18.000 Kilometer zurückgelegt, das entspricht fast einer halben Erdumrundung. Forschende vom Senckenberg-Zentrum Biodiversität und Klima in Frankfurt haben ihre eindrucksvolle Reise im Fachblatt „Ecology“ detailliert beschrieben.

Bereits im Oktober 2014 hatte Nandintsetseg Dejid mit ihrem Team das weibliche Tier mit einem solarbetriebenen GPS-Halsband versehen, das stündlich die Position aufzeichnete – und viel länger hielt als bei den 14 weiteren besenderten Gazellen. „Die Reise war nicht nur aufgrund ihrer Distanz außergewöhnlich“, erklärt Ökologin Dejid, „sondern auch, weil sich die Gazelle häufig über Hunderte Kilometer in unbekannte Regionen wagte.“ Mongolische Gazellen unternehmen nicht wie viele andere Tier arten saisonale Wanderungen auf festen Routen. Ihre Migration ist unvorhersehbar: Sie leben nomadisch.

© Carsten Raffel© Carsten Raffel

So war die Gazelle im ersten Jahr recht standorttreu, um im November 2015 plötzlich ihre weite Wanderung nach Norden anzutreten, offenbar um einer hohen Schneedecke auszuweichen. Sie überquerte Flüsse, mal zugefroren, mal reißend, passierte Ölfelder und Bergbaugebiete, legte auf dem Rückweg in einem Schutzgebiet eine Pause zum Kalben ein und kehrte nach zwei Jahren in ein altbekanntes Überwinterungsgebiet zurück. Im August 2019 starb sie, der Sender wurde in der Jurte eines Hirten gefunden. Er gab an, sie sei an einem Madenbefall gestorben.

Auffallend ist, dass die Gazelle zweimal an den Grenzen zu Russland und China entlanglief, ohne sie zu überschreiten. Auch ihre besenderten Artgenossinnen zeigten dieses Verhalten, der Grund: Selbst in der dünn besiedelten ostasiatischen Steppe stehen Grenzzäune. Weltweit haben wandernde Huftiere mit menschengemachten Hindernissen zu kämpfen: Immer mehr Straßen, Bahndämme, Siedlungen oder Bergbau- und Industrieanlagen schneiden ihre Wege ab. Dabei ist es in Zeiten der Erderhitzung, wenn Umweltbedingungen chaotischer werden und sich Klimazonen verschieben, noch wichtiger, dass sie sich frei bewegen können, etwa um Wasser oder Nahrung zu suchen.

92 Fachleute, darunter Nandintsetseg Dejid, haben jüngst im Fachjournal „Science“ vorgeschlagen, einen globalen Atlas der Huftiermigration zu erstellen. Neben GPS-Daten soll auch indigenes Wissen einfließen. Ziel des mehrjährigen Projekts ist es, Wanderrouten – ob von Gnus und Antilopen in Afrika, Karibus in Nordamerika oder Rothirschen in Europa – besser schützen zu können. Dejids Karte der Gazellenwanderung wurde in dem „Science“-Artikel als Beispiel gezeigt.

Sie macht deutlich: Egal, ob zwischen der Mongolei, Russland und China am Rande der Wüste Gobi, ob an der Südgrenze der USA, in Palästina oder zwischen Polen und Belarus, befestigte Grenzen sind nicht nur menschen-, sondern auch tierfeindlich. In ihrem Artikel fordern die Fachleute „durchlässige Landschaften für nomadisierende Huftiere“. Nicht nur diese würden profitieren.