Als der Eisberg A-68 vor drei Jahren vom Larsen-Eisschelf der Antarktischen Halbinsel abbrach, war der größte Eisberg der Welt entstanden – mit 5800 Quadratkilometern Fläche war der gefrorene Gigant größer als Luxemburg. Ein Eisberg solchen Ausmaßes ist extrem selten – noch seltener aber ist das, was dann geschah.

„Viele Eisberge bleiben in der Antarktis und setzen sich dort fest“, erklärt der Ökologe Geraint Tarling vom British Antarctic Survey (BAS), Großbritanniens Polarforschungsprogramm. Zur geografischen Einordnung: Die Antarktische Halbinsel ragt wie ein Zipfel, länger als Italien, von der insgesamt mehr oder weniger runden Antarktis nordwestlich in Richtung Argentinien. Der Larsen-Eisschelf schmiegt sich an die Ostküste der Halbinsel. Wenn ein abgebrochenes Teilstück als Eisberg in den offenen Ozean driftet, zerbricht es meist recht schnell, erklärt Geraint Tarling. 

Nicht so A-68. Der riesige Eisberg zerbrach nicht, und nachdem er zwei Jahre lang nahe der Antarktischen Halbinsel blieb, begann letztes Jahr seine Reise Richtung Norden – und schließlich auf Südgeorgien zu. Die Insel im Südatlantik zählt politisch zum britischen Überseegebiet, wird aber, wie auch die Falklandinseln, von Argentinien beansprucht. Auf Satellitenbildern verfolgen die Forscherinnen und Forscher des BAS und vieler anderer Institute weltweit den Weg des Eisbergs. „Etwas so Großes hat sich seit Beginn der wissenschaftlichen Aufzeichnungen nicht auf Südgeorgien zubewegt“, sagt Geraint Tarling. Er ist in großer Sorge um die einzigartige Artenvielfalt der Insel.

© Picture Alliance<p>Südgeorgien ist beliebt bei Pinguinen, rund die Hälfte der weltweit lebenden Königspinguine bewohnt die Insel. Hier tummeln sie sich in der Saint Andrews Bay an der Nordküste</p>
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Südgeorgien ist beliebt bei Pinguinen, rund die Hälfte der weltweit lebenden Königspinguine bewohnt die Insel. Hier tummeln sie sich in der Saint Andrews Bay an der Nordküste

Südgeorgien beheimatet große Kolonien von Goldschopf-, Zügel- und Eselspinguinen, und rund die Hälfte aller Königspinguine weltweit lebt dort. Ebenso pflanzt sich auf der Insel die Hälfte aller Südlichen See-Elefanten fort, und in den umliegenden Gewässern leben mehrere Walarten. Bis in die Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts war Südgeorgien deswegen das Basislager für Robben- und Walfänger – bis die Tierpopulationen fast ausgelöscht waren und sich das Geschäft nicht mehr lohnte. Seitdem haben sich die Bestände erholt. Dass die Zahl der Wale derzeit stark anwächst, gilt als große Erfolgsgeschichte. Anfang letzten Jahres zählten Forscher des BAS in der Region innerhalb von drei Wochen 55 Blauwale, so viele wie nie zuvor.

Aber damit nicht genug der Wunder: Auf dem Meeresgrund um Südgeorgien leben zahllose Schwämme und Tiefseekorallen, See- und Schlangensterne, Seeigel, Seespinnen und verschiedene Weichtiere. Die marine Artenvielfalt wird mit jener der Galapagosinseln verglichen. „Der Meeresboden ist so vielfältig, dass das gesamte Gebiet zum Meeresschutzgebiet erklärt wurde“, sagt Geraint Tarling. „Wenn man dort mit Scheinwerfern hinabtauchen würde, dann würde man etwas so Erstaunliches wie das Great Barrier Reef sehen.“

Der Eisberg droht all dem großen Schaden zuzufügen. Trifft er auf den Unterwassersockel, der Südgeorgien umgibt, droht er den Meeresboden aufzuscheuern. „Das wäre ziemlich verheerend“, sagt Tarling. Nicht nur wegen der Artenvielfalt: In den Pflanzen und Tieren auf dem Meeresgrund ist auch eine große Menge an Kohlenstoff gebunden. Wird dieser frei, gelangt er ins Wasser und von dort aus auch irgendwann in die Atmosphäre. Würde der Eisberg stranden, könnte er außerdem über mehrere Jahre tonnenweise Süßwasser in eine Umgebung entlassen, die an Salzwasser angepasst ist. Er würde dann auch die Wassertemperatur um mehrere Grade senken, was zur Folge hätte, dass die mikroskopischen Algen nicht mehr wachsen. „Und das wirkt sich kaskadenartig auf den Rest der Nahrungskette aus, der vom Phytoplankton abhängig ist“, erklärt Tarling. „Insbesondere auf etwas, das um Südgeorgien herum sehr wichtig ist: den antarktischen Krill. Wenn die Krebse keine Nahrung haben, werden sie nicht gedeihen, und dann werden auch jene Tiere leiden, die sich von Krill ernähren – also Robben, Pinguine und Wale“,

Nicht zuletzt könnte der Eisberg, wenn er vor der Küste der Insel zu liegen käme, Robben und Pinguine von ihren Futtergründen abschneiden. Das Timing dafür könnte nicht schlechter sein, denn in diesen Wochen ist Brutzeit bei den Pinguinen. „Die Küken müssen täglich gefüttert werden, besonders wenn sie noch sehr klein sind“, sagte Norman Ratcliffe, Seevogel-Biologe vom BAS, der Nachrichtenagentur Reuters. „Wenn das nicht geschieht, kann ihr Überleben auf dem Spiel stehen. Eselspinguine sind sehr anfällig dafür, dass eine komplette Kolonie zusammenbricht, wenn die Nahrungsbedingungen schlecht sind.“ Auch für die Königspinguine könnte der Eisberg zum Problem werden, denn sie umrunden die Insel typischerweise gut zwei Wochen lang, um Nahrung in ihren Bäuchen zu sammeln, die sie dann für ihre Jungen wieder hochwürgen. Wenn der Eisberg sie zu zeitaufwändigen Umwegen zwänge, drohten die Küken zu verhungern.

© NASA<p>Dieses Bild nahm der Erdbeobachtungsatellit Terra der NASA am 14. Dezember auf. Inzwischen ist der Eisberg in mehrere Teile zerbrochen, er bleibt aber weiter gefährlich für die kleine Insel</p>
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Dieses Bild nahm der Erdbeobachtungsatellit Terra der NASA am 14. Dezember auf. Inzwischen ist der Eisberg in mehrere Teile zerbrochen, er bleibt aber weiter gefährlich für die kleine Insel

Um all diese Auswirkungen zu untersuchen, bricht an diesem Montag ein Forscherteam des BAS in Richtung A-68 auf. Es ist die erste Expedition, die den Eisberg seit seiner Geburt vor drei Jahren untersuchen wird. Mehrere Versuche – auch des deutschen Forschungsschiffs „Polarstern“ im Jahr 2019 – in die Region zu gelangen, in der A-68 abgebrochen war, waren wegen des zu dicken Meereises gescheitert.

Geraint Tarling fährt seit zwanzig Jahren jedes Jahr in die Antarktis. Er wäre eigentlich auch dieses Jahr dabei gewesen, aber aufgrund der Pandemie musste die Anzahl der teilnehmenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von normalerweise zwölf auf drei reduziert werden. Sie werden zunächst zu den Falklandinseln reisen, sich dort in Quarantäne begeben und dann an Bord des Forschungsschiffs „RRS James Cook“ zum Eisberg A-68 aufbrechen. Dort werden sie so viele Proben sammeln, wie sie können. Statt sie wie sonst an Bord des Schiffes zu analysieren, müssen sie wegen der dünnen Besetzung eingefroren und konserviert werden. Bevor es dann weiter Richtung Antarktis geht, sollen zwei Unterwassergleiter Temperatur, Salzgehalt und Phytoplanktondichte in der Umgebung des Eisbergs messen.

All das wird wertvolle Informationen darüber liefern, wie Eisberge dieser Größe ihre Umgebung beeinflussen. Denn obwohl die Forscher des BAS die Entstehung von A-68 nicht in der globalen Erwärmung begründet sehen, so gilt es als wahrscheinlich, dass der Klimawandel in Zukunft vermehrt solche Kalbungen auslösen wird. „Die Entstehung dieses Eisbergs war ein natürliches Ereignis“, sagt Tarling. „Aber es ist ein Vorgeschmack auf das, was kommen wird.“ 

Der Larsen-Eisschelf, aus dem A-68 herausbrach, bricht seit Jahrzehnten Stück für Stück zusammen – immer näher am Südpol. Seit 1995 hat er 75 Prozent seiner Größe eingebüßt. Der Klimawandel heizt die Antarktis im Vergleich zu den anderen Kontinenten mit am stärksten auf. Sollten die wärmeren Konditionen das Eis der Antarktis zum Schmelzen bringen, würde der Meeresspiegel laut der Studie eines Teams internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler allein dadurch bis zum Jahr 2100 um bis zu 58 Zentimeter steigen – und langfristig um viele Meter.

In diesen Tagen sind weiterhin alle Augen auf A-68 gerichtet. Bislang hat er noch keine der befürchteten Schäden angerichtet. So lange der Eisberg im offenen Meer treibt, hat er sogar positive Auswirkungen. Denn als er noch Teil des Schelfs war, sammelte sich Staub aus der Atmosphäre auf ihm an. Dieser Staub enthält viel Eisen – je weiter der Eisberg schmilzt, desto mehr düngt er das Wasser damit und hilft so Pflanzen beim Wachsen. 

Kurz vor dem Jahreswechsel brach A-68 in mehrere Stücke, eines davon namens A-68-D ist offenbar auf dem Inselschelf auf Grund gelaufen. Es sei wahrscheinlich, dass mehrere der kleineren Eisberge dasselbe tun werden, sagt Tarling. Die große Frage ist: Wird das immer noch sehr große Teilstück Eisberg A-68-A von der Strömung um die Insel herum getrieben, oder wird es ebenfalls auf Grund laufen – mit all den befürchteten negativen Folgen?

„Das wird sich wahrscheinlich innerhalb der nächsten Woche oder so zeigen“, schätzt Geraint Tarling. „Wenn unsere Crew dort eintrifft, werden wir sein endgültiges Schicksal bereits kennen.“