Liebe Leserinnen und Leser,

noch hört man nichts, aber schließlich sind es ja auch noch drei Wochen, bis die Ära der Stromerzeugung aus Atomkraft in Deutschland endgültig vorbei sein soll. Also praktisch eine Ewigkeit. Seit der Kehrtwende des Verkehrsministers beim auf EU-Ebene geplanten und eigentlich vereinbarten Aus für Verbrennungsmotoren wissen wir zweierlei: Erstens, man kann auch ein paar Sekunden vor zwölf ein vermeintlich fest verplombtes Fass noch einmal aufmachen. Und zweitens, in der Ampel sind manche so technologieoffen, dass sich diese Haltung auch auf Technologien von gestern und vorgestern erstreckt.

Die Atomkraft galt nämlich in der Bundesrepublik (wie auch in der DDR) ab den Fünfzigerjahren als tolle Zukunftsenergie. Unter Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) wurde das Bundesministerium für Atomfragen, BMAt, gegründet, dessen erster Minister Franz Josef Strauß (CSU) hieß. Besagtes BMAt war übrigens der Vorläufer des späteren Ministeriums für Bildung und Forschung. Proteste gab es zunächst keine, weder in der DDR noch im Westen, wo parteiübergreifend Einigkeit herrschte, dass die „friedliche Nutzung der Kernenergie“ eine feine Sache sei.

In den Siebzigerjahren begann sich im Westen das Blatt allmählich zu wenden. Die Chiffren für ein erst langsam, dann immer schneller wachsendes Protestpotenzial lauteten Wyhl und Gorleben, Kalkar und Wackersdorf, Brokdorf und Grohnde. Und die Reaktorunfälle von Three Mile Island im US-Bundesstaat Pennsylvania (1978) und dem ukrainischen Tschernobyl in der damaligen Sowjetunion (1986) taten ein Übriges. Dann gab es unter der rot-grünen Regierung einen Atomausstieg, unter der schwarz-gelben einen kurzen Wiedereinstieg und nach der bislang letzten Kastastrophe im japanischen Fukushima (2011) den fast endgültigen Ausstieg, an den noch mal dreieinhalb Monate „Streckbetrieb“ angehängt wurden.

Eine ganz so feine Sache schien die friedliche Nutzung der Kernenergie wohl doch nicht zu sein, und überhaupt: Was heißt hier friedlich? Plutonium, der Stoff, aus dem die Bomben sind, entsteht bei der Kernspaltung immer, auch in Leistungsreaktoren. Zwar nicht in bester, reiner Waffenqualität, aber auch daraus lassen sich nukleare Sprengsätze herstellen. Und dass solche Anlagen sich als Terror- oder Kriegsziele eignen oder zumindest für den Aufbau einer Drohkulisse, zeigt sich immer wieder am Beispiel des ukrainischen AKW Saporischschja.  

Es gibt viele Gründe, Laufzeitverlängerungswünschen eine Absage zu erteilen. Sicherheitsbedenken zum Beispiel. In den 56 französischen Kraftwerken etwa, darunter 13 betagte Ü-40-Anlagen, häufen sich die Probleme – gerade erst wurden in drei Blöcken neue Risse in den Rohrleitungen entdeckt. Schweißnähte wollen überprüft werden, im Reaktordruckbehälter können im Lauf der Zeit durch die fortgesetzte Neutronenstrahlung sogenannte Sprödbrüche auftreten, und dann sorgt anhaltende Dürre für niedrige Pegelstände in den Flüssen wie im letzten Sommer, sodass es eng wird beim Kühlwasser. Nichtsdestotrotz sollen die AKW in Frankreich unter Auflagen bis zu 50 Jahre laufen dürfen. Es sind sogar Laufzeitverlängerungen auf 60 oder 80 Jahre im Gespräch.

Und die Klimakrise? Gerade hat der Weltklimarat uns wieder mal die Leviten gelesen. Müssen wir nicht nach jedem noch so kleinen Strohhalm greifen, und wenn er radioaktiv strahlt, um wenigstens noch in die Nähe einer Erderhitzung um „nur“ zwei Grad zu gelangen? Wenn wir mal Uranabbau und -anreicherung, Brennelementfertigung, Transporte, Rückbau und Endlagerung beiseitelassen und nur den laufenden tatsächlich CO2-freien Betrieb betrachten, dann müssten, um bis 2050 elf Prozent des weltweiten Strombedarfs zu decken (das Maximum dessen, was die Internationale Atomenergiebehörde IAEA derzeit für realistisch hält), jedes Jahr rund dreimal so viele Reaktoren ans Netz gehen wie bisher.

Das würde erstens viel zu lange dauern und zweitens eine Kleinigkeit kosten. Abschreckende Beispiele: die Druckwasserreaktoren neuen Typs (EPR) im französischen Flamanville oder Hinkley Point C im britischen Somerset, die beim französischen Stromriesen EDF als Bauherren erhebliches Bauchgrimmen verursachen, Stichwort: explodierende Kosten und erodierende Zeitpläne. Wenn bei solchen Projekten nicht der Staat einspringt, also Sie und ich und wir alle, dann wird das nichts. Wir zahlen sowieso drauf, auch für etwaige Unfälle (Atomanlagen sind selbstverständlich nicht vollkaskoversichert) und natürlich für die Endlagerung. Das Geld wäre in echten Zukunftsenergien weitaus besser angelegt.

Ich bin gespannt, ob die ganze Diskussion vor dem 15. April noch mal losbricht oder ob wir das Abschaltdatum jetzt ohne solche Hintergrundgeräusche erreichen. Mit der Zeitumstellung morgen Nacht sind wir schon wieder eine Stunde näher dran. Das hoffentlich letzte Wort soll der Dichter Eugen Roth haben, der die ganze Sache viel besser zusammenfasst als ich es je könnte.

Das Böse

Ein Mensch, was noch ganz ungefährlich
Erklärt die Quanten (schwer erklärlich!)
Ein zweiter, der das All durchspäht,
erforscht die Relativität.
Ein dritter nimmt noch harmlos an,
Geheimnis stecke im Uran.
Ein vierter ist nicht fernzuhalten,
von dem Gedanken, Kern zu spalten.
Ein fünfter – reine Wissenschaft –
Entfesselt der Atome Kraft.
Ein sechster, auch noch bonafidlich,
will die verwerten, doch nur friedlich.
Unschuldig wirken sie zusammen :
Wen dürften, einzeln, wir verdammen?
Ist‘s nicht der siebte erst und achte,
Der Bomben dachte und dann machte?
Ist‘s nicht der Böseste der Bösen,
der es gewagt sie auszulösen?
Den Teufel wird man nie erwischen:
Er steckt von Anfang an dazwischen.

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P.S.: Wegen der anstehenden Produktion des nächsten Greenpeace Magazins sowie dem Karfreitag pausiert die Wochenauslese für zwei Wochen. Am 14. April sind wir wieder da!

Unterschrift

Kerstin Eitner
Redakteurin