Liebe Leserinnen und Leser,

„O Gott, es regnet!“ Das hatte jemand im Mai 1986, kurz nach der Katastrophe von Tschernobyl, auf eine Wand im Hamburger Karolinenviertel gesprüht. Den Ausruf könnte man aktuell wiederverwenden, nicht für radioaktiven Fallout, sondern für ganz normalen Regen.

Na ja, ganz normal ist er nicht, der Regen, der Flüsse und Bäche in kürzester Zeit zu reißenden Strömen anschwellen lässt und alles wegschwemmt, was für Menschen Bedeutung hat – Ernten, Existenzen, Einrichtungen, Erinnerungen. Der manche sogar das Leben kostet. In Deutschland traf es um den Jahreswechsel Niedersachsen, erst im Mai das Saarland und nun Bayern und Baden-Württemberg. Jahrhunderthochwasser!, heißt es dann.

Lange Zeit passte das gut. Wenn so ein „HQ100“-Pegelstand aber alle paar Jahre (die Ahrtalflut war erst 2021) oder gar jährlich auftritt, wie es der Weltklimarat für die Zeit ab 2100 prophezeit hat, müsste man da nicht mal langsam mindestens die Hundert aus dem Jahrhundert streichen?

Wärmere Luft, wie oft hat man das schon gehört und gelesen, kann mehr Wasserdampf aufnehmen als kältere. Dass die Erdtemperaturen unaufhaltsam steigen, je mehr Treibhausgase man in die Atmosphäre bläst, ist auch nicht neu. Die Klimaforschung predigt seit Jahren, dass Extremwetterereignisse wie Überschwemmungen, Stürme und Dürren infolge der Klimakrise erstens häufiger und zweitens intensiver werden.

Jedoch, O-Ton Markus Söder (CSU), bayerischer Ministerpräsident: „Hier entstehen Ereignisse, die es vorher nicht gab. Damit konnte auch oder hat keiner normalerweise gerechnet. Vor dem Hintergrund müssen wir uns dem Thema Klimaschutz, aber auch Klima-Anpassung viel stärker widmen in Deutschland.“

Halten wir ihm zugute, dass er das K-Wort wenigstens ausgesprochen hat, anders als Indiens Ministerpräsident Narendra Modi, der es während der mehrwöchigen Parlamentswahlen schaffte, den Elefanten im Raum komplett zu ignorieren, selbst als die Temperaturen im Land mancherorts über 50 Grad Celsius stiegen. Floridas Gouverneur Ron DeSantis wiederum hat den Klimaschutz kurzerhand gecancelt: Programme für erneuerbare Energien oder Energieeinsparungen wurden beendet und Vorgaben für klimafreundliche Produkte oder spritsparende Fahrzeuge aufgehoben.

So schlimm wird es hier nicht kommen. Aber: Sobald die Pegel gesunken, das Gröbste aufgeräumt und Milliarden an Hilfsgeldern in die betroffenen Regionen geflossen oder zumindest bewilligt sind (nach der Ahrtalflut: 30 Milliarden Euro), wird man noch eine Zeitlang über besseren Hochwasserschutz debattieren. Zum Beispiel die Erhöhung von Deichen, obwohl Fachleute davor warnen. Sie birgt nämlich auch die Gefahr, dass dann im Glauben an größere Sicherheit neue Gebäude in Überschwemmungsgebieten entstehen – wie üblich. Wahrscheinlich wieder mit Kellern statt auf Stelzen, und mit viel Beton. Jedenfalls wird man langsam, aber sicher zur Tagesordnung übergehen.

Dabei ginge es auch anders. Mit mehr Raum für die Flüsse etwa, mit Auenlandschaften, Feuchtgebieten, renaturierten Flussläufen, wiedervernässten Mooren und der Umwandlung von Acker- in Weideland zum Beispiel, mit Tieren als Landschaftsschützern. Bessere Rückhaltesysteme würden auch dafür sorgen, dass die Grundwasservorräte nicht noch weiter sinken – denn die nächste Dürre kommt bestimmt.

Inmitten der Hochwasserberichterstattung meldet sich der von der Bundesregierung eingesetzte Expertenrat und schreddert deren Prognose, die Klimaziele für 2030 würden erreicht. Leider nein, urteilt das Gremium, wenn man so weitermacht wie bisher. Treibhausgasneutralität bis 2045 wäre dann auch außer Reichweite. Man empfehle, „die zeitnahe Implementierung zusätzlicher Maßnahmen zu prüfen“. Besonders im Verkehrs- und Gebäudebereich. Kommt das irgendwem bekannt vor?

Unterdessen sind für Bayern weitere Schauer, Gewitter und Starkregen vorausgesagt. Hoffen wir, dass es so glimpflich wie möglich abläuft – und lassen derweil das Wort „Jahrhunderthochwasser“ in den Fluten versinken.

Wer am Wochenende nicht von Unwettern heimgesucht wird, hat keine Ausrede, der Europa- und mancherorts auch Kommunalwahl fernzubleiben. Sofern Sie also nicht schon per Briefwahl abgestimmt haben, sehen wir uns im Wahllokal!

 

Unterschrift

Kerstin Eitner
Redakteurin